Die Idee der reinen Logik

Edmund Husserl

pp. 230-258


Um wenigstens ein vorläufiges, durch einige charakteristische Züge bestimmtes Bild des Zieles zu erlangen, dem die im II. BandeA: Teil. folgenden Einzeluntersuchungen zustreben, wollen wir den Versuch wagen, die Idee der reinen Logik, welche durch die bisherigen kritischen Betrachtungen einigermaßen vorbereitet ist, zu begrifflicher Klarheit zu erheben.

§ 62. Die Einheit der Wissenschaft. Der Zusammenhang der Sachen und der Zusammenhang der Wahrheiten

Wissenschaft ist zunächst eine anthropologische Einheit, nämlich Einheit von Denkakten, Denkdispositionen nebst gewissen zugehörigen äußeren Veranstaltungen. Was alles diese Einheit als anthropologische und speziell, was sie als psychologische bestimmt, ist hier nicht unser Interesse. Dieses geht vielmehr darauf, was Wissenschaft zur Wissenschaft macht, und das ist jedenfalls nicht der psychologische und überhaupt reale Zusammenhang, dem sich die Denkakte einordnen, sondern ein gewisser objektiver oder idealer Zusammenhang, der ihnen einheitliche gegenständliche Beziehung und in dieser Einheitlichkeit auch ideale Geltung verschafft.

Doch es bedarf hier größerer Bestimmtheit und Klarheit. Unter dem objektiven Zusammenhang, der das wissenschaftliche Denken ideell durchzieht, ihm und so der Wissenschaft als solcher "Einheit" gibt, kann Doppeltes verstanden werden: Der Zusammenhang der Sachen, auf welche sich die Denkerlebnisse (die wirklichen oder möglichen) intentional beziehen, und auf der anderen Seite der Zusammenhang der Wahrheiten, in dem die sachliche Einheit als das, was sie ist, zur objektiven Geltung kommt. Eins und das andere ist a priori miteinander gegeben und voneinander unablösbar. Es kann nichts sein, ohne so oder so bestimmt zu sein; und daß es ist und so oder so bestimmt ist, dies ist eben die Wahrheit an sich, welche das notwendige Korrelat des Seins an sich bildet. Offenbar gilt dasselbe, was von einzelnen Wahrheiten bzw. Sachverhalten gilt, auch von Zusammenhängen von Wahrheiten bzw. von Sachverhalten. Diese evidente Unabtrennbarkeit ist aber nicht Identität. In den bezüglichen Wahrheiten oder Wahrheitszusammenhängen prägt sich das wirkliche Bestehen der Sachen und sachlichen Zusammenhänge ausA: konstituiert sich die Geltung der Sachen und sachlichen Zusammenhänge.. Aber die Wahrheitszusammenhänge sind andere als die Zusammenhänge der Sachen, die in jenen "wahrhaft"A: wahr (wahrhaft).sind; dies zeigt sich sofort darin, daß die Wahrheiten, die von Wahrheiten gelten, nicht zusammenfallen mit den Wahrheiten, die von den Sachen gelten, welche in jenen Wahrheiten gesetzt sind.

Um Mißverständnisse nicht aufkommen zu lassen, betone ich ausdrücklich, daß die Wörter Gegenständlichkeit, Gegenstand, Sache u. dgl. hier allzeit im weitesten Sinne, also in Harmonie mit dem von mir bevorzugten Sinn des Terminus Erkenntnis gebraucht werden. Ein Gegenstand (der Erkenntnis) kann ebensowohl ein Reales sein wie ein Ideales, ebensowohl ein Ding oder ein Vorgang wie eine Spezies oder eine mathematische Relation, ebensowohl ein Sein wie ein Seinsollen. Dies überträgt sich von selbst auf Ausdrücke wie Einheit der Gegenständlichkeit, Zusammenhang der Sachen und dergleichen.

Gegeben sind uns diese beiden, nur abstraktiv ohne einander zu denkenden Einheiten — die Einheit der Gegenständlichkeit auf der einen, die der Wahrheit auf der anderen Seite — im Urteil oder genauer in der Erkenntnis. Dieser Ausdruck ist weit genug, um wie die einfachen Erkenntnisakte, so alle wie immer komplizierten, logisch einheitlichen Erkenntniszusammenhänge in sich zu fassen: ein jeder als Ganzes ist selbst ein Erkenntnisakt. Indem wir nun einen Erkenntnisakt vollziehen oder, wie ich es mit Vorhebe ausdrücke, in ihm leben, sind wir "mit dem Gegenständlichen beschäftigt", das er, eben in erkennender Weise, meint und setzt; und ist es Erkenntnis im strengsten Sinne, d. h. urteilen wir mit Evidenz, so ist das Gegenständliche originärZusatz von B. gegeben. Der Sachverhalt steht uns jetzt nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich vor Augen und in ihm der Gegenstand selbst, als das, was er ist, d. h. genau so und nicht anders, als wie er in dieser Erkenntnis gemeint ist: als Träger dieser Eigenschaften, als Glied dieser Relationen u. dgl. Er ist nicht bloß vermeintlich, sondern wirklich so beschaffen, und als wirklich so beschaffener ist er unserer Erkenntnis gegeben; das heißt aber nichts anderes: als solcher ist er nicht bloß überhaupt gemeint (geurteilt), sondern erkannt; oder; daß er so ist, ist aktuell gewordene Wahrheit, vereinzelt im Erlebnis des evidenten UrteilsA: ist Erlebnis im evidenten Urteil.. Reflektieren wir auf diese Vereinzelung und vollziehen wir ideirende AbstraktionA: diesen Akt., so wird statt jenes Gegenständlichen die Wahrheit selbst zum erfaßten Gegenstande A: Gegenstande, und nun ist sie in gegenständlicher Weise gegeben.. Wir erfassen hierbei In A folgt: — in ideierender Abstraktion —. die Wahrheit als das ideale Korrelat des flüchtigen subjektiven Erkenntnisaktes, als die eineIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. ,| gegenüber der unbeschränkten Mannigfaltigkeit möglicher Erkenntnisakte und erkennender Individuen.

Den Erkenntniszusammenhängen entsprechen idealiter Zusammenhänge von Wahrheiten. Sie sind, passend verstanden, nicht nur Komplexe von Wahrheiten, sondern komplexe Wahrheiten, die somit selbst, und zwar als ganze, dem Begriff der Wahrheit unterstehen. Dahin gehören auch die Wissenschaften, das Wort objektiv genommen, also im Sinne der geeinigten Wahrheit. Bei der allgemeinen Korrelation, die zwischen Wahrheit und Gegenständlichkeit besteht, entspricht auch der Einheit der Wahrheit in einer und derselben Wissenschaft eine einheitliche Gegenständlichkeit: es ist die Einheit des Wissenschaftsgebietes. Auf sie bezogen, heißen alle einzelnen Wahrheiten derselben Wissenschaft sachlich zusammengehörig, ein Ausdruck, der freilich, wie wir nachher sehen werden, hierbei in einem weiteren Sinne, als es üblich ist, genommen erscheint. (Vgl. den Schluß des § 64, S. 236.)

§ 63. Fortsetzung. Die Einheit der Theorie

Es fragt sich nun, was die Einheit der Wissenschaft und damit auch die Einheit des Gebietes bestimmt. Denn nicht jede Zusammenfügung von Wahrheiten zu einem Wahrheitsverbande, die ja auch eine ganz äußerliche bleiben könnte, macht eine Wissenschaft. Zur Wissenschaft gehört, so sagten wir im ersten Kapitel,* Vgl. § 6, S. 13. Wir hatten dort unter dem Titel Wissenschaft allerdings einen eingeschränkteren Begriff, den der theoretisch-erklärenden, abstrakten Wissenschaft im Auge. Doch macht dies keinen wesentlichen Unterschied aus, zumal mit Rücksicht auf die ausgezeichnete Stellung der abstrakten Wissenschaften, die wir weiter unten gleich erörtern. eine gewisse Einheit des Begründungszusammenhanges. Aber auch dies will noch nicht genügen, da es zwar auf die Begründung als etwas zur Idee der Wissenschaft wesentlich Gehöriges hinweist, aber nicht sagt, welcher Art Einheit von Begründungen Wissenschaft ausmacht.

Um zur Klarheit zu kommen, schicken wir einige allgemeine Feststellungen voraus.

Wissenschaftliche Erkenntnis ist als solche Erkenntnis aus dem Grunde. Den Grund von etwas erkennen, heißt die Notwendigkeit davon, daß es sich so und so verhält, einsehen. Die Notwendigkeit als objektives Prädikat einer Wahrheit (die dann notwendige Wahrheit heißt) bedeutet soviel wie gesetzliche Gültigkeit des bezüglichen Sachverhaltes.** Es handelt sich also nicht um einen subjektiven, psychologischen Charakter des bezüglichen Urteils, etwa gar um ein Gefühl des Genötigtseins u. dgl. Wie ideale Gegenstände und somit auch ideale Prädikate solcher Gegenstände zu den subjektiven Akten stehen, darüber haben wir einiges S. 128 f. angedeutet. Näheres im II. BandeA: Teil.. Also einen Sachverhalt als gesetzmäßigen oder seine Wahrheit als notwendig geltende einsehen, und Erkenntnis vom Grunde des Sachverhaltes bzw. seiner Wahrheit haben, das sind äquivalente Ausdrücke. In naturgemäßer Äquivokation pflegt man allerdings auch jede allgemeine Wahrheit, die selbst ein Gesetz ausspricht, als notwendige Wahrheit zu bezeichnen. Entsprechend dem erstdefinierten Sinne wäre sie vielmehr als erklärender Gesetzesgrund zu bezeichnen, aus dem eine Klasse notwendiger Wahrheiten entspringt.

Die Wahrheiten zerfallen in individuelle und generelle. Die ersteren enthalten (explizite oder implizite) Behauptungen über wirkliche Existenz individueller Einzelheiten, während die letzteren davon völlig frei sind und nur die (rein aus Begriffen) mögliche Existenz von Individuellem zu erschließen gestatten.

Individuelle Wahrheiten sind als solche zufällig. Spricht man hei ihnen von Erklärung aus Gründen, so handelt es sich darum, ihre Notwendigkeit unter gewissen vorausgesetzten Umständen nachzuweisen. Ist nämlich der Zusammenhang einer Tatsache mit anderen Tatsachen ein gesetzlicher, so ist ihr Sein, auf Grund der Gesetze, welche die Zusammenhänge der betreffenden Art regeln, und unter Voraussetzung der zugehörigen Umstände als notwendiges Sein bestimmt.

Handelt es sich nicht um die Begründung einer tatsächlichen, sondern um die einer generellen Wahrheit (die hinsichtlich möglicher Anwendung auf die unter sie fallenden Tatsachen selbst wieder den Charakter eines Gesetzes hat), so werden wir auf gewisse generelle Gesetze hingewiesen, die auf dem Wege der Spezialisierung (nicht Individualisierung) und der deduktiven Folge den zu begründenden Satz ergeben. Die Begründung von generellen Gesetzen führt notwendig auf gewisse, ihrem Wesen nach (also "an sich" und nicht bloß subjektiv oder anthropologisch) nicht mehr begründbare Gesetze. Sie heißen Grundgesetze.

Die systematische Einheit der ideal geschlossenen Gesamtheit von Gesetzen, die in einer Grundgesetzlichkeit als auf ihrem letzten Grund ruhen und aus ihm durch systematische Deduktion entspringen, ist die Einheit der systematisch vollendeten Theorie. Die Grundgesetzlichkeit besteht hierbei entweder aus einem Grundgesetz oder aus einem Verband homogener Grundgesetze.

Theorien in diesem strengen Sinne besitzen wir in der allgemeinen Arithmetik, in der Geometrie, der analytischen Mechanik, der mathematischen Astronomie usw. Gewöhnlich faßt man den Begriff der Theorie als einenA: einer. relativen, nämlich relativ zu einer durch sie beherrschten Mannigfaltigkeit von Einzelheiten, denen sie die erklärenden Gründe beistellt. Die allgemeine Arithmetik gibt die erklärende Theorie für die numerischen und konkreten Zahlensätze; die analytische Mechanik für die mechanischen Tatsachen; die mathematische Astronomie für die Tatsachen der Gravitation usw. Die Möglichkeit, erklärende Funktion anzunehmen, ist aber eine selbstverständliche Folge des Wesens der Theorie in unserem absoluten Sinne. — In einem laxeren Sinn versteht man unter Theorie ein deduktives System, in dem die letzten Gründe noch nicht Grundgesetze im strengen Sinne des Wortes sind, aber als echte Gründe ihnen näher führen. In der Stufenfolge der geschlossenen Theorie bildet die Theorie in diesem laxen Sinn eine Stufe.

Wir beachten noch folgenden Unterschied: jeder erklärende Zusammenhang ist ein deduktiver, aber nicht jeder deduktive Zusammenhang ist ein erklärender. Alle Gründe sind Prämissen, aber nicht alle Prämissen Gründe. Zwar ist jede Deduktion eine notwendige, d.i. sie steht unter Gesetzen; aber daß die Schlußsätze nach Gesetzen (den Schlußgesetzen) folgen, besagt nicht, daß sie aus Gesetzen folgen und in ihnen im prägnanten Sinne "gründen". Freilich pflegt man auch jede Prämisse, zumal eine allgemeine, als "Grund" für die daraus gezogene "Folge" zu bezeichnen — eine wohl zu beachtende Äquivokation.

§ 64. Die wesentlichen und außerwesentlichen Prinzipien, die der Wissenschaft Einheit gehen. Abstrakte, konkrete und normative Wissenschaften

Wir sind nun in der Lage, die oben aufgeworfene Frage zu beantworten: was die Zusammengehörigkeit der Wahrheiten einerIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. Wissenschaft bestimme, was ihre "sachliche" Einheit ausmache.

Das einigende Prinzip kann von doppelter, von wesentlicher und außerwesentlicher Art sein.

Wesentlich eins sind die Wahrheiten einer Wissenschaft, wenn ihre Verknüpfung auf dem beruht, was Wissenschaft vor allem zur Wissenschaft macht; und dies ist, wie wir wissen, Erkenntnis aus dem Grunde, also Erklärung oder Begründung (im prägnanten Sinne). Wesentliche Einheit der Wahrheiten einer Wissenschaft ist Einheit der Erklärung. Aber alle Erklärung weist hin auf eine Theorie und findet ihren Abschluß in der Erkenntnis der Grundgesetze, der Erklärungsprinzipien. Einheit der Erklärung bedeutet also theoretische Einheit, das heißt, nach dem oben Ausgeführten, homogene Einheit der begründenden Gesetzlichkeit, letztlich homogene Einheit der erklärenden Prinzipien.

Die Wissenschaften, in denen der Gesichtspunkt der Theorie, der prinzipiellen Einheit das Gebiet bestimmt, und welche somit in ideeller Geschlossenheit alle möglichen Tatsachen und generellen Einzelheiten umfassen, die in einerIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. Grundgesetzlichkeit ihre Erklärungsprinzipien haben, nennt man, nicht eben passend, abstrakte Wissenschaften. Am bezeichnendsten hießen sie eigentlich theoretische Wissenschaften. Doch wird dieser Ausdruck im Gegensatz zu den praktischen und normativen Wissenschaften gebraucht, und auch wir haben ihn oben in diesem Sinne belassen. Einer Anregung von J. v. Kries* J. v. Kries, Die Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung, 1886, S. 85 f., und Vierteljahrsschrift f. w. Philosophie, XVI (1892), S. 255. Doch handelt es sich v. Kries bei den Terminis "nomologisch" und "ontologisch" um eine Unterscheidung von Urteilen, nicht wie hier von Wissenschaften. folgend, könnte man diese Wissenschaften fast ebenso charakteristisch als nomologische Wissenschaften bezeichnen, sofern sie im Gesetz das einigende Prinzip, wie das wesentliche Forschungsziel besitzen. Auch der mitunter gebrauchte Name erklärende Wissenschaften ist zutreffend, wenn er die Einheit aus Erklärung und nicht das Erklären selbst betonen will.In A folgt: Denn zum Wesen jeder Wissenschaft als solcher gehört es ja zu erklären.

Es gibt aber fürs Zweite auch "außerordentlicheA: außerwesentliche. Gesichtspunkte für die Zusammenordnung von Wahrheiten zu einerIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. Wissenschaft, und als den nächstliegenden nennen wir die Ein-heit der Sach ein einem mehr wörtlichen Sinne. Man verknüpft nämlich all die Wahrheiten, die sich ihrem Inhalte nach auf eine und dieselbe individuelle Gegenständlichkeit oder auf eine und dieselbe empirische Gattung beziehen. Dies ist der Fall der konkreten oder, mit Benutzung des v. Kriesschen Terminus, der ontologischen Wissenschaften, wie Geographie, Geschichte, Sternkunde, Naturgeschichte, Anatomie usw. Die Wahrheiten der Geographie sind geeint durch ihre Beziehung zur Erde, die Wahrheiten der Meteorologie betreffen, noch eingeschränkter, die irdischen Witterungserscheinungen usw.

Man pflegt diese Wissenschaften auch als deskriptive zu bezeichnen, und man könnte diesen Namen insofern gelten lassen, als ja die Einheit der Beschreibung durch die empirische Einheit des Gegenstandes oder der Klasse bestimmt ist, und es in den hierhergehörigen Wissenschaften diese deskriptive Einheit ist, welche die Einheit der Wissenschaft bestimmt. Aber natürlich dürfte man den Namen nicht so verstehen, als ob deskriptive Wissenschaften es auf bloße Beschreibung abgesehen hätten, was dem für uns maßgebenden Begriff von Wissenschaft widerspricht.

Da es möglich ist, daß die Erklärung, die sich nach empirischen Einheiten richtet, in weit auseinander liegende oder gar heterogene Theorien und theoretische Wissenschaften führt, so nennen wir die Einheit der konkreten Wissenschaft mit Recht eine außerwesentliche.

Jedenfalls ist es klar, daß die abstrakten oder nomologischen Wissenschaften die eigentlichen Grundwissenschaften sind, aus deren theoretischem Bestande die konkreten Wissenschaften alles das zu schöpfen haben, was sie zu Wissenschaften macht, nämlich das Theoretische. Wohl begreiflich lassen sich die konkreten Wissenschaften daran genügen, das Gegenständliche, das sie beschreiben, an die niedrigeren Gesetze der nomologischen Wissenschaften anzuknüpfen, und allenfalls noch die Hauptrichtung aufsteigender Erklärung anzudeuten. Denn die Reduktion auf die Prinzipien und der Bau der erklärenden Theorien überhaupt ist die eigentümliche Domäne der nomologischen Wissenschaften, und ist in ihnen, bei hinreichender Entwicklung, in allgemeinster Form als bereits geleistet vorzufinden. Natürlich soll hiermit über den relativen Wert der beiderlei Wissenschaften nichts ausgesagt sein. Das theoretische Interesse ist nicht das alleinige und nicht das einzig wertbestimmende. Ästhetische, ethische, im weiteren Sinne des Wortes praktische Interessen können sich an Individuelles anknüpfen und seiner vereinzelten Beschreibung und Erklärung höchsten Wert verleihen. Wofern aber das rein theoretische Interesse das maßgebende ist, da gilt das individuelle Einzelne und die empirische Verknüpfung für sich nichts, oder es gilt nur als methodologischer Durchgangspunkt für die Konstruktion der allgemeinen Theorie. Der theoretische Naturforscher bzw. der Naturforscher im Zusammenhange rein theoretischer, mathematisierender Erwägung, sieht die Erde und die Gestirne mit anderen Augen an als der Geograph oder der Astronom; sie sind ihm an sich gleichgültig und gelten ihm nur als Beispiele gravitierender Massen überhaupt.

Wir haben schließlich noch ein anderes, ebenfalls außer-wesentliches Prinzip wissenschaftlicher Einheit zu erwähnen, es ist dasjenige, welches aus einem einheitlichen wertschätzenden Interesse erwächst, also objektiv bestimmt ist durch einen einheitlichen Grundwert (bzw. durch die einheitliche Grundnorm), wie wir dies im II. Kap., § 14 ausführlich besprochen haben. Dies macht also in den normativen Disziplinen die sachliche Zusammengehörigkeit der Wahrheiten bzw. die Einheit des Gebietes aus. Freilich wird man bei der Rede von sachlicher Zusammengehörigkeit am natürlichsten eine solche verstehen, die in den Sachen selbst gründet; man wird also hierbei nur die Einheit aus theoretischer Gesetzlichkeit oder die Einheit der konkreten Sache im Auge haben. In dieser Auffassung treten normative und sachliche Einheit in einen Gegensatz.

Nach dem, was wir früher erörtert haben, hängen die normativen Wissenschaften von den theoretischen — und vor allem von den theoretischen Wissenschaften in dem engsten Sinn der nomologischen — in einer Weise ab, daß wir wieder sagen können, daß sie aus diesen all das schöpfen, was an ihnen das Wissenschaftliche ausmacht, als welches eben das Theoretische ist.

§ 65. Die Frage nach den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft bzw. Theorie überhaupt. A. Die auf die aktuelle Erkenntnis bezogene Frage

Wir stellen nun die bedeutsame Frage nach den "Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt". Da das wesentliche Ziel der wissenschaftlichen Erkenntnis nur durch die Theorie in dem strengen Sinne der nomologischen Wissenschaften erreicht werden kann, so ersetzen wir die Frage durch die nach den Bedingungen der Möglichkeit einer Theorie überhaupt. Theorie als solche besteht aus Wahrheiten, und die Form ihrer Verknüpfung ist die deduktive. Also schließt die Beantwortung unserer Frage die der allgemeineren ein, nämlich die der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit von Wahr-heit überhaupt und wieder von deduktiver Einheit überhaupt. — Die historischen Anklänge sind in der Form der Fragestellung natürlich beabsichtigt. Wir haben es offenbar mit einer durchaus notwendigen Verallgemeinerung der Frage nach den "Bedingungen der Möglichkeit einer Erfahrung" zu tun. Erfahrungseinheit ist ja für Kant die Einheit der gegenständlichen Gesetzlichkeit; also fällt sie unter den Begriff der theoretischen Einheit.

Doch der Sinn der Frage bedarf einer genaueren Präzisierung. Sie wird zunächst wohl in subjektivem Sinne verstanden werden, in dem sie besser ausgedrückt würde als Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit theoretischer Erkenntnis überhaupt, allgemeiner von Schlußfolgerung überhaupt und von Erkenntnis überhaupt, und zwar der Möglichkeit nach für ein beliebiges menschliches Wesen. Diese Bedingungen sind teils reale, teils ideale. Von den ersteren, den psychologischen, sehen wir hier ab. Selbstverständlich gehören zur Möglichkeit der Erkenntnis in psychologischer Beziehung all die kausalen Bedingungen, von denen wir im Denken abhängen. Ideale Bedingungen für die Möglichkeit der Erkenntnis können, nach dem, was wir bereits ausgeführt haben,* Vgl. oben § 32, S. 111. Ich habe dort, wo es zur Fixierung des prägnanten Begriffes von Skeptizismus auf so subtile Unterscheidung nicht ankam, bloß gegenübergestellt: noetische Bedingungen der theoretischen Erkenntnis und objektivlogische der Theorie selbst. Hier aber, wo wir alle einschlägigen Verhältnisse zu vollster Klarheit bringen müssen, erscheint es angemessen, die logischen Bedingungen zunächst auch als Erkenntnisbedingungen anzusehen, und ihnen dann erst direkte Beziehung auf die objektive Theorie selbst zu geben. Natürlich berührt dies nicht das Wesentliche unserer Auffassung, die so vielmehr zu deutlicher Entfaltung kommt. Dasselbe gilt bezüglich der hier vollzogenen Mitberück|sichtigung der empirisch-subjektiven Erkenntnisbedingungen, neben den noetischen und rein-logischen. Offenbar ziehen wir hierbei Nutzen von den kritischen Betrachtungen zur Evidenztheorie der Logik. Vgl. oben S. 187. Evidenz ist ja nichts anderes als der Charakter der Erkenntnis als solcher. von doppelter Art sein. Entweder sie sind noetische, nämlich sie gründen in der Idee der Erkenntnis als solcher, und zwar a priori, ohne jede Rücksicht auf die empirische Besonderheit des menschlichen Erkennens in seinen psychologischen Bedingtheiten; oder sie sind rein logischeA: rein-logische., d.h. sie gründen rein im "Inhalt" der Erkenntnis. Was das eineIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. anbelangt, so ist es a priori evident, daß denkende Subjekte überhaupt z.B. befähigt sein müssen, alle Arten von Akten zu vollziehen, in denen sich theoretische Erkenntnis realisiert. Speziell müssen wir, als denkende Wesen, das Vermögen haben, Sätze als Wahrheiten und Wahrheiten als Folgen anderer Wahrheiten einzu|sehen; und wiederum Gesetze als solche, Gesetze als erklärende Gründe, Grundgesetze als letzte Prinzipien usw. einzusehen. Nach der anderen Seite ist es aber auch evident, daß Wahrheiten selbst und speziell Gesetze, Gründe, Prinzipien sind, was sie sind, ob wir sie einsehen oder nicht. Da sie aber nicht gelten, sofern wir sie einsehen können, sondern da wir sie nur einsehen können, sofern sie gelten, so müssen sie als objektive oder ideale Bedingungen der Möglichkeit ihrer Erkenntnis angesehen werden. Folglich sind apriorische Gesetze, die zur Wahrheit als solcher, zur Deduktion als solcher und zur Theorie als solcher (d.i. zum allgemeinen WesenIn A nicht gesperrt. dieser idealen Einheiten) gehören, als Gesetze zu charakterisieren, welche ideale Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt bzw. von deduktiver und theoretischer Erkenntnis überhaupt, ausdrücken, und zwar Bedingungen, welche rein im "Inhalt" der Erkenntnis gründen.

Offenbar handelt es sich hier um apriorische Erkenntnisbedingungen, welche, abgesondert von aller Beziehung zum denkenden Subjekt und zur Idee der Subjektivität überhaupt, betrachtet und erforscht werden können. Die fraglichen Gesetze sind ja in ihrem Bedeutungsgehalt von solcher Beziehung ganz frei, sie sprechen nicht, und sei es auch in idealer Weise, vom Erkennen, Urteilen, Schließen, Vorstellen, Begründen u. dgl., sondern von Wahrheit, Begriff, Satz, Schluß, Grund und Folge usw., wie wir dies oben ausführlich erörtert haben.* Vgl. oben § 47, S. 173 ff. Selbstverständlich können diese Gesetze aber evidente Wendungen erfahren, durch die sie ausdrückliche Beziehung auf die Erkenntnis und das Erkenntnissubjekt gewinnen und nun selbst über reale Möglichkeiten des Erkennens aussagen. Hier wie sonst erwachsen apriorische Behauptungen über reale Möglichkeiten durch Übertragung idealer (durch rein generelle Sätze ausgedrückter) Verhältnisse auf empirische Einzelfälle.** Vgl. das arithmetische Beispiel § 23, S. 74 oben. 1

Im Grunde genommen sind die idealen Erkenntnisbedingungen, die wir als die noetischen von den objektiv-logischen unterschieden haben, nichts anderes als derartige Wendungen jener zum reinen Erkenntnisinhalt gehörigen gesetzlichen Einsichten, durch welche diese selben eben zur Kritik und durch weitere Wendungen zur praktisch-logischen Normierung der Erkenntnis fruchtbar gemacht werden. (Denn auch die normativen Wendungen der rein logischenA: rein-logischen. Gesetze, wovon oben so viel die Rede war, schließen sich hier an.)

§ 66. B. Die auf den Erkenntnisinhalt bezogene Frage

Aus dieser Betrachtung ergibt sich, daß wir bei der Frage nach den idealen Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis überhaupt und speziell von theoretischer Erkenntnis letztlich zurückgeführt werden auf gewisse Gesetze, die rein im Inhalt der Erkenntnis bzw. in den kategorialen Begriffen, denen er untersteht, gründen und so abstrakt sind, daß sie von der Erkenntnis als Akt eines erkennenden Subjekts nichts mehr enthalten. Eben diese Gesetze bzw. die sie aufbauenden kategorialen Begriffe, machen nun das aus, was im objektiv-idealen Sinne unter Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt verstanden werden kann. Denn nicht nur in bezug auf die theoretische Erkenntnis, wie wir es bisher taten, sondern auch in bezug auf ihren Inhalt, also direkt auf die Theorie selbst, kann die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit aufgeworfen werden. Wir verstehen dann, dies ist wiederholt zu betonen, unter Theorie einen gewissen idealen Inhalt möglicher Erkenntnis, genauso wie unter Wahrheit, Gesetz u. dgl. Der Mannigfaltigkeit von individuell einzelnen Erkenntnisakten desselben Inhalts entspricht die eineIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. Wahrheit, eben als dieser ideal identische Inhalt. In gleicher Weise entspricht der Mannigfaltigkeit von individuellen Erkenntniskomplexionen, in deren jeder dieselbe Theorie — jetzt oder ein anderes Mal, in diesen oder in jenen Subjekten — zur Erkenntnis kommt, eben diese Theorie als der ideal identische Inhalt. Sie ist dann nicht aus Akten, sondern aus rein idealen Elementen, aus Wahrheiten, aufgebaut, und dies in rein idealen Formen, in denen von Grund und Folge. Beziehen wir nun die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit direkt auf Theorie in diesem objektiven Sinne, und zwar auf Theorie überhaupt, so kann diese Möglichkeit keinen anderen Sinn haben als den bei rein begrifflich gedachten Objekten sonst. Von den Objekten werden wir dann auf die Begriffe zurückgeführt, und "Möglichkeit" bedeutet nichts anderes als "Geltung" oder besser Wesenhaftigkeit des bezüglichen Begriffs. Es ist dasselbe, was öfters als "Realität" des Begriffes bezeichnet worden ist, im Gegensatz zur Imaginarität oder, wie wir besser sagen: zur Wesenlosigkeit. In diesem Sinne spricht man von Realdefinitionen, welche die Möglichkeit, Geltung, Realität des definierten Begriffes verbürgen, und wieder vom Gegensatz reeller und imaginärer Zahlen, geometrischer Gebilde usw. Offenbar ist die Rede von der Möglichkeit in Anwendung auf Begriffe äquivok durch Übertragung. Im eigentlichen Sinne möglich ist die Existenz von Gegenständen, die unter die bezüglichen Begriffe fallen. Diese Möglichkeit wird a priori gewährleistet durch Erkenntnis des begrifflichen Wesens, welche uns z.B. aufleuchtet auf Grund der anschaulichen Vorstellung eines solchen Gegenstandes. Die Wesenhaftigkeit des Begriffes wird nun aber, durch Übertragung, auch selbst als Möglichkeit bezeichnet.

Mit Beziehung darauf gewinnt die Frage nach der Möglichkeit einer Theorie überhaupt und nach den Bedingungen, an welchen sie hängt, einen leicht faßlichen Sinn. Die Möglichkeit oder Wesenhaftigkeit von Theorie überhaupt ist natürlich gesichert durch einsichtige Erkenntnis irgendeiner bestimmten Theorie. Die weitere Frage wird aber sein: Was bedingt in idealgesetzlicher Allgemeinheit diese Möglichkeit von Theorie überhaupt? Also was macht das ideale "Wesen" von Theorie als solcher aus? Welches sind die primitiven "Möglichkeiten", aus denen sich die "Möglichkeit" der Theorie, m.a.W., welches sind die primitiven wesenhaften Begriffe, aus denen sich der selbst wesenhafte Begriff der Theorie konstituiert? Und des weiteren: welches sind die reinen Gesetze, die, in diesen Begriffen gründend, aller Theorie als solcher Einheit geben; also die Gesetze, welche zur Form aller Theorie als solcher gehören und die möglichen (wesentlichen) Abwandlungen oder Arten derselben a priori bestimmen?

Umgrenzen diese Idealbegriffe bzw. Gesetze die Möglichkeit von Theorie überhaupt, drücken sie m.a.W. aus, was zur Idee der Theorie wesentlich gehört, so ergibt sich unmittelbar, daß jede prätendierte Theorie Theorie nur ist, wenn sie und sofern sie mit diesen Begriffen bzw. Gesetzen harmoniert. Logische Rechtfertigung eines Begriffes, d.h. Rechtfertigung seiner idealen Möglichkeit, vollzieht sich durch Rückgang auf sein anschauliches oder deduktibles Wesen. Also logische Rechtfertigung einer gegebenen Theorie als solcher (d.i. ihrer reinen Form nach) erfordert den Rückgang auf das Wesen ihrer Form und somit den Rückgang auf jene Begriffe und Gesetze, welche die idealen Kon-stituentien von Theorie überhaupt (die "Bedingungen ihrer Möglichkeit") ausmachen, und welche alle Spezialisierung der Idee Theorie in ihre möglichen Arten a priori und deduktiv regeln. Es verhält sich hier ebenso, wie im weiteren Gebiet der Deduktion, z.B. bei den einfachen Syllogismen. Obschon sie in sich selbst von Einsicht durchleuchtet sein können, empfangen sie doch ihre letzte und tiefste Rechtfertigung erst durch Rückgang auf das formale Schlußgesetz. Hierdurch erwächst ja Einsicht in den apriorischen Grund des syllogistischen Zusammenhangs. Ebenso bei jeder noch so komplizierten Deduktion und im besonderen bei einer Theorie. Im einsichtigen theoretischen Denken haben wir Einsicht in die Gründe der erklärten Sachverhalte. Die tieferdringende Einsicht in das Wesen des theoretischen Zusammenhanges selbst, welcher den theoretischen Inhalt dieses Denkens ausmacht, und in die apriorischen Gesetzesgründe seiner Leistung gewinnen wir erst durch Rückgang auf Form und Gesetz und die theoretischen Zusammenhänge der ganz anderen Erkenntnisschicht, zu der sie gehören.

Der Hinweis auf tiefere Einsichten und Rechtfertigungen mag dazu dienen, den unvergleichlichen Wert der theoretischen Untersuchungen hervortreten zu lassen, die zur Lösung des angeregten Problems dienen: Es handelt sich um die systematischen Theorien, die im Wesen der Theorie gründen, bzw. um die apriorische theoretische nomologische Wissenschaft, die auf das ideale Wesen der Wissenschaft als solcher, also nach Seiten ihres Gehaltes an systematischen Theorien und mit Ausschluß ihrer empirischen, anthropologischen Seite, Beziehung hat; also in einem tiefen Sinn: um die Theorie der Theorien, die Wissenschaft der Wissenschaften. Doch die Leistung für die Bereicherung unserer Erkenntnis ist natürlich zu sondern von den Problemen selbst und dem eigenen Gehalt ihrer Lösungen.

§ 67. Die Aufgaben der reinen Logik. Erstens: die Fixierung der reinen Bedeutungskategorien, der reinen gegenständlichen Kategorien und ihrer gesetzlichen Komplikationen

Machen wir auf Grund dieser vorläufigen Fixierung der Idee jener apriorischen Disziplin, deren tieferes Verständnis anzubahnen, das Ziel unserer Bemühungen sein soll, einen Überschlag der Aufgaben, die wir ihr werden zuweisen müssen, so werden wir wohl drei Gruppen zu scheiden haben:

Fürs Erste wird es sich darum handeln, die wichtigeren und zumal die sämtlichen primitiven Begriffe festzustellen bzw. wissenschaftlich zu klären, die den Zusammenhang der Erkenntnis in objektiver Beziehung und insbesondere den theoretischen Zusammenhang "möglich machen". Mit anderen Worten, es ist auf die Begriffe abgesehen, welche die Idee der theoretischen Einheit konstituieren, oder auch auf Begriffe, die mitA: zu solchen in idealgesetzlichem Zusammenhang stehen. Begreiflicherweise treten hier konstitutiv Begriffe zweiter Stufe, nämlich Begriffe von Begriffen und sonstigen idealen Einheiten auf. Gegebene Theorie ist eine gewisse deduktive Verknüpfung gegebener Sätze, diese selbst sind bestimmt geartete Verknüpfungen gegebener Begriffe. Die Idee der zugehörigen "Form" der Theorie erwächst durch Substitution von Unbestimmtem für jene Gegebenheiten, und so treten Begriffe von Begriffen und anderen Ideen an die Stelle schlichter Begriffe. Dahin gehören schon die Begriffe: Begriff, Satz, Wahrheit usw.

Konstitutiv sind natürlich die Begriffe der elementaren Verknüpfungsformen, zumal derjenigen, welche ganz allgemein für die deduktive Einheit von Sätzen konstitutiv sind, z.B. die konjunktive, disjunktive, hypothetische Verknüpfung von Sätzen zu neuen Sätzen. Weiterhin aber auch die Formen der Verbindung niederer Bedeutungselemente zu den einfachen Sätzen, und dies führt wieder auf die verschiedenartigen Subjektformen, Prädikatformen, auf die Formen konjunktiver und disjunktiver Verbindung, auf die PluralformZusatz von B. usw. Feste Gesetze regeln die schrittweisen Komplikationen, durch welche eine unendliche Mannigfaltigkeit neuer und immer neuer Formen aus den primitiven erwächst. Naturgemäß gehören auch diese Komplikationsgesetze, welche die kombinatorische Übersicht über die auf Grund der primitiven Begriffe und Formen ableitbaren Begriffe ermög|lichen, und diese kombinatorische Übersicht selbst in den hier betrachteten Forschungskreis.* Vgl. die IV. Unters, d. II. Bd┐1

In nahem, ideal gesetzlichem Zusammenhang mit den bisher erwähnten Begriffen, den Bedeutungskategorien, stehen andere, zu ihnen korrelativeA: korrelate. Begriffe, wie Gegenstand, Sachverhalt, Einheit, Vielheit, Anzahl, Beziehung, Verknüpfung usf. Es sind die reinen oder formalen gegenständlichen Kategorien. Auch diese müssen also in Betracht gezogen werden. Beiderseits handelt es sich durchgehends um Begriffe, die, wie es schon ihre Funktion klarmacht, von der Besonderheit irgendwelcher Erkenntnismaterie unabhängig sind, und unter welche sich alle im Denken speziell auftretenden Begriffe und Gegenstände, Sätze und Sachverhalte usw. ordnen müssen; daher sie nur im HinblickA: durch Reflexion. auf die verschiedenen "Denkfunktionen" entspringen, d.h. in möglichen Denkakten als solchen oder den in ihnen erfaßbaren KorrelatenZusatz von B. ihre konkrete Grundlage haben können.* Vgl. S. 230 oben und VI. Unters. § 44 des II. Bandes.Zusatz von B.

Alle diese Begriffe sind nun zu fixieren, ihr "Ursprung" ist einzelweise zu erforschen. Nicht als ob die psychologische Frage nach der Entstehung der bezüglichen begrifflichen Vorstellungen oder Vorstellungsdispositionen für die fragliche Disziplin das geringste Interesse hätte. Um diese Frage handelt es sich nicht; sondern um den phänomenologischenA: logischen Ursprung, oder — wenn wir es vorziehen, die unpassende und aus Unklarheit erwachsene Rede vom Ursprung ganz zu beseitigen — es handelt sich um Einsicht in das Wesen der bezüglichen Begriffe und in methodologischer Hinsicht um Fixierung eindeutiger, scharf unterschiedener Wortbedeutungen. Zu diesem Ziele können wir nur durch intuitiveZusatz von B. Vergegenwärtigung des Wesens in adäquater IdeationZusatz von B. oder bei komplizierten Begriffen durch Erkenntnis der Wesenhaftigkeit der ihnen einwohnenden Elementarbegriffe und der Begriffe ihrer Verknüpfungsformen gelangen.

| All das sind nur vorbereitende und scheinbar geringfügige Aufgaben. Sie kleiden sich in erheblichem Maße notwendig in die Form terminologischer Erörterungen und erscheinen Unkundigen gar leicht als kleinliche und öde Wortklaubereien. Aber so lange die Begriffe nicht unterschieden und durch Rückgang auf ihre Wesen in ideierender IntuitionZusatz von B. geklärt sind, ist alle weitere Bemühung hoffnungslos. In keinem Erkenntnisgebiet zeigt sich die Äquivokation verhängnisvoller, in keinem hat die Verworrenheit der Begriffe den Fortschritt der Erkenntnis so sehr gehemmt, ja schon ihren Anfang, die Einsicht in die wahren Ziele, so sehr unterbunden, wie im Gebiet der reinen Logik. Die kritischen Analysen dieser Prolegomena haben dies überall gezeigt.

Man kann die Bedeutung der Probleme dieser ersten Gruppe kaum zu hoch anschlagen, und es ist fraglich, ob nicht gerade bei ihnen die größten Schwierigkeiten der ganzen Disziplin liegen.

§ 68. Zweitens: die Gesetze und Theorien, die in diesen Kategorien gründen

Die zweite Gruppe von Problemen gilt der Aufsuchung der Gesetze, die in jenen beiden Klassen kategorialer Begriffe gründen, und die nicht nur die möglichen Formen der Komplikation und modifizierenden Umgestaltung der durch sie befaßten theoretischen Einheiten betreffen,* Vgl. II. Bd., Untersuchung IV.Zusatz von B. sondern vielmehr die objektive Geltung der erwachsenden Bildungsformen: also einerseits die Wahrheit oder Falschheit von Bedeutungen überhaupt rein auf Grund ihrer kategorialen Bildungsform; andererseits (hinsichtlich ihrer gegenständlichen Korrelate) Sein und Nichtsein von Gegenständen überhaupt, Sachverhalten überhaupt usw., wieder auf Grund ihrer puren kategorialen Form. Diese Gesetze, die also in denkbar größter, weil logisch-kategorialer Allgemeinheit auf Bedeutungen und Gegenstände überhaupt gehen,** Vgl. II. Bd., Untersuchung I, § 29, gegen Schluß.Zusatz von B.A: betrifft die Aufsuchung der Gesetze, die in jenen kategorialen Begriffen gründen und nicht nur deren Komplikation, sondern vielmehr die objektive Geltung der sich aus ihnen aufbauenden theoretischen Einheiten betreffen. Diese Gesetze. konstituieren selbst wieder Theorien. Auf der einenIn A nicht gesperrt.Seite, der der Bedeutungen, stehenZusatz von B. die Theorien der Schlüsse, z.B. die Syllogistik, welche aber nur eineIn A nicht gesperrt. solche Theorie ist. Auf der anderenIn A nicht gesperrt. Seite, der der Korrelate,Zusatz von B. gründet im Begriff der Vielheit die reine Vielheitslehre, im Begriff der Anzahl die reine Anzahlenlehre usw. — jede eine geschlossene Theorie für sich. So führen alle hierhergehörigen Gesetze auf eine beschränkte Zahl von primitiven oder Grundgesetzen, die unmittelbar in den kategorialen Begriffen wurzeln und (vermöge ihrer Homogenität) eine allumfassende Theorie begründen müssen, welche jene einzelnen Theorien als relativ geschlossene Bestandteile in sich faßt.

Es ist hier auf den Bereich von Gesetzen abgesehen, unter welchen, vermöge ihrer formalen, alle möglichen Bedeutungen und alle möglichen Gegenstände umspannenden Allgemeinheit, jede besondere Theorie und Wissenschaft steht, denen gemäß jede, wofern sie gültige ist,A: welchen gemäß jede theoretische Forschung. verlaufen muß. Nicht als ob jede einzelne Theorie als Grund ihrer Möglichkeit und Gültigkeit jedes einzelne dieser Gesetze voraussetzte. Vielmehr bilden jene kategorialenZusatz von B. Theorien und GesetzeZusatz von B. in ihrer idealen Vollendung den allumfassenden Fond, aus dem jede bestimmte gültigeA: (sc. wirkliche, gültige). Theorie die zu ihrer FormZusatz von B. gehörigen idealen Gründe ihrer Wesenhaftigkeit schöpft: es sind die Gesetze, denen gemäß sie verläuft, und aus denen sie als gültige Theorie, ihrer "Form" nach, vom letzten Grund aus gerechtfertigt werden kann. Sofern Theorie eine umfassende Einheit ist, die sich aus einzelnen Wahrheiten und Zusammenhängen aufbaut, ist es selbstverständlich, daß die Gesetze, die zum Begriff der Wahrheit und zur Möglichkeit einzelner Zusammenhänge dieser oder jener Form gehören, in dem abgegrenzten Gebiet mitbeschlossen sind. Obgleich, oder vielmehr weil der Begriff der Theorie der engere ist,In A folgt: so. ist die Aufgabe, die Bedingungen seiner Möglichkeit zu erforschen, die umfassendere gegenüber den entsprechenden Aufgaben für Wahrheit überhaupt und für die primitiven Formen von Satzzusammenhängen.* Vgl. oben § 65, S. 236 f. A im Haupttext: (vgl. oben S. 237).

§ 69. Drittens: die Theorie der möglichen Theorienformen oder die reine Mannigfaltigkeitslehre

Sind alle diese Untersuchungen erledigt, so ist der Idee einer Wissenschaft von den Bedingungen der Möglichkeit von Theorie überhaupt Genüge geschehen. Wir sehen aber sogleich, daß diese Wissenschaft über sich hinausweist auf eine ergänzende, welche a priori von den wesentlichen Arten (Formen) von Theorien und den zugehörigen Beziehungsgesetzen handelt. So erwächst, alles in eins gefaßt, die Idee einer umfassenderen Wissenschaft von Theorie überhaupt, die in ihrem fundamentalen Teile die wesentlichen Begriffe und Gesetze, die zur Idee der Theorie konstitutiv gehören, erforscht, und dann dazu übergeht, diese Idee zu differenzieren und statt der Möglichkeit von Theorie als solcher vielmehr die möglichen Theorien a priori zu erforschen.

Nämlich auf Grund der hinreichend weit geführten Lösung der bezeichneten Aufgaben wird es möglich, aus rein kategorialen Begriffen mannigfaltige Begriffe möglicher Theorien bestimmt auszugestalten, reine "Formen" von Theorien, deren Wesenhaftigkeit gesetzlich erwiesen ist. Diese verschiedenen Formen sind aber untereinander nicht beziehungslos. Es wird eine bestimmte Ordnung des Verfahrens geben, wonach wir die möglichen Formen zu konstruieren, ihre gesetzlichen Zusammenhänge zu überschauen, also auch die einen durch Variation bestimmender Grundfaktoren in die anderen überzuführen vermögen usw. Es wird, wenn auch nicht überhaupt, so doch für Theorienformen bestimmt definierter Gattungen, allgemeine Sätze geben, welche in dem abgesteckten Umfange die gesetzmäßige Auseinanderentwicklung, Verknüpfung und Umwandlung der Formen beherrschen.

Die hier aufzustellenden Sätze werden offenbar von anderem Gehalt und Charakter sein müssen, als die Grund- und Lehrsätze der Theorien der zweiten Gruppe, als z.B. die syllogistischen Gesetze oder die arithmetischen usw. Aber andererseits ist es von vornherein klar, daß ihre Deduktion (denn eigentliche Grundgesetze kann es hier nicht geben) ausschließlich in jenen Theorien fußen muß.

Dies ist ein letztes und höchstes Ziel einer theoretischen Wissenschaft von der Theorie überhaupt. Es ist auch in erkenntnispraktischer Hinsicht kein gleichgültiges. Die Einordnung einer Theorie in ihre Formklasse kann vielmehr von größter methodologischer Bedeutung werden. Denn mit der Ausbreitung der deduktiven und theoretischen Sphäre wächst auch die freie Lebendigkeit der theoretischen Forschung, es wächst der Reichtum und die Fruchtbarkeit der Methoden. So wird die Lösung von Problemen, die innerhalb einer theoretischen Disziplin bzw. innerhalb einer ihrer Theorien gestellt sind, unter Umständen höchst wirksame methodische Hilfen gewinnen können durch Rückgang auf den kategorialen Typus oder (was dasselbe) die Form der Theorie und eventuell dann weiter durch Übergang zu einer umfassenderen Form oder Formklasse und ihren Gesetzen.

§ 70. Erläuterungen zur Idee der reinen Mannigfaltigkeitslehre

Diese Andeutungen werden vielleicht etwas dunkel erscheinen.

Daß es sich bei ihnen nicht um vage Phantasien, sondern um Konzeptionen von festem Gehalte handelt, beweist die "formale Mathematik" in allerallgemeinstem Sinne oder die Mannigfaltigkeitslehre, diese höchste Blüte der modernen Mathematik. In der Tat ist sie nichts anderes, als (in korrelativer Umwendung)Zusatz von B. eine partielle Realisierung des soeben entworfenen Ideals — womit natürlich nicht gesagt ist, daß die Mathematiker selbst, ursprünglich von den Interessen des Zahlen- und Größengebietes geleitet und dadurch zugleich beschränkt, das ideale Wesen der neuen Disziplin richtig erkannt und sich überhaupt zur höchsten Abstraktion einer allumfassenden TheorieA: Theorienlehre. erhoben haben. Das gegenständliche KorrelatIn A nicht gesperrt. des Begriffes der möglichen, nur der Form nach bestimmten Theorie ist der Begriff eines möglichen, durch eine Theorie solcher Form zu beherrschenden Erkenntnisgebietes überhaupt. Einsolches Gebiet nennt aber der Mathematiker (in seinem Kreise) eine Mannigfaltigkeit. Es ist also ein Gebiet, welches einzig und allein dadurch bestimmt ist, daß es einer Theorie solcher Form untersteht, bzw.A: d. h.. daß für seine Objekte gewisse Verknüpfungen möglich sind, die unter gewissen Grundgesetzen der und der bestimmten Form (hier das einzig Bestimmende) stehen. Ihrer Materie nach bleiben die Objekte völlig unbestimmt — der Mathematiker spricht, dies anzudeuten, mit Vorliebe von "Denkobjekten". Sie sind eben weder direkt als individuelle oder spezifische Einzelheiten, noch indirekt durch ihre materialenA: inneren. Arten oder Gattungen bestimmt, sondern ausschließlich durch die Form ihnen zugeschriebener Verknüpfungen. Diese selbst sind also inhaltlich ebensowenig bestimmt, wie ihre Objekte; bestimmt ist nur ihre Form, nämlich durch die Formen der für sie als gültig angenommenenA: Form für sie als gültig angenommener Elementargesetze. Und diese bestimmen dann, wie das GebietIn A nicht gesperrt. oder vielmehr die GebietsformZusatz von B., so die aufzubauende TheorieIn A nicht gesperrt. oder, wiederumZusatz von B. richtiger gesprochen, die Theorienform. In der Mannigfaltigkeitslehre ist z.B. + nicht das Zeichen der Zahlenaddition, sondern einer Verknüpfung überhaupt, für welche Gesetze der Form a + b = b + a usw. gelten. Die Mannigfaltigkeit ist dadurch bestimmt, daß ihre Denkobjekte diese (und andere, damit als a priori verträglich nachzuweisenden) "Operationen" ermöglichen.

Die allgemeinste Idee einer Mannigfaltigkeitslehre ist es, eine Wissenschaft zu sein, welche die wesentlichen Typen möglicher Theorien (bzw. Gebiete)Zusatz von B. bestimmt ausgestaltet und ihre gesetzmäßigen Beziehungen zueinander erforscht. Alle wirklichen Theorien sind dann Spezialisierungen bzw. Singularisierungen ihnen entsprechender Theorienformen, so wie alle theoretisch bearbeiteten Erkenntnisgebiete einzelne Mannigfaltigkeiten sind. Ist in der Mannigfaltigkeitslehre die be|treffende formale Theorie wirklich durchgeführt, so ist damit alle deduktive theoretische Arbeit für den Aufbau aller wirklichen Theorien derselben Form erledigt.

Dies ist ein Gesichtspunkt von höchster methodologischer Bedeutung, ohne ihn ist von einem Verständnis mathematischer Methode nicht zu reden. Nicht minder wichtig ist die mit dem Rückgang auf die reine Form nahegelegte Einordnung derselben in umfassendere Formen und Formklassen. Daß hier ein Hauptstück der wunderbaren methodologischen Kunst der Mathematik liegt, zeigt nicht nur der Hinblick auf die aus Verallgemeinerungen der geometrischen Theorie und Theorienform erwachsenen Mannigfaltigkeitslehren, sondern schon der erste und einfachste Fall dieser Art, die Erweiterung des reellen Zahlengebietes (sc. der entsprechenden Theorienformen, der "formalen Theorie der reellen Zahlen") zum formalen, zweifach ausgedehnten Gebiet der gemeinen komplexen Zahlen. In der Tat liegt in dieser Auffassung der Schlüssel für die einzig mögliche Lösung des noch immer nicht geklärten Problems, wie z.B. im Anzahlengebiete unmögliche (wesenlose) Begriffe methodisch so behandelt werden dürfen wie reale. Doch dies näher zu erörtern, ist hier nicht die Stelle.

Wenn ich oben von Mannigfaltigkeitslehren spreche, die aus Verallgemeinerungen der geometrischen Theorie erwachsen sind, so meine ich natürlich die Lehre von den n-dimensionalen, sei es Euklidschen, sei es nicht-Euklidschen Mannigfaltigkeiten, ferner Graßmanns Ausdehnungslehre und die verwandten, von allem Geometrischen leicht abzulösenden Theorien eines W. Rowan Hamilton u.a. Auch Lies Lehre von den Transformationsgruppen, G. Cantors Forschungen über Zahlen und Mannigfaltigkeiten gehören, neben vielen anderen, hierher.

An der Weise, wie durch Variation des Krümmungsmaßes die verschiedenen Gattungen von raumähnlichen Mannigfaltigkeiten ineinander übergehen, kann sich der Philosoph, der die ersten Anfänge der Riemann-Helmholtzschen Theorie kennen gelernt hat, eine gewisse Vorstellung davon verschaffen, wie reine Theorienformen von bestimmt unterschiedenem Typus durch ein gesetzliches Band miteinander verknüpft sind. Es wäre leicht nachzuweisen, daß durch die Erkenntnis der wahren Intention solcher Theorien, als rein kategorialer Theorienformen, aller metaphysische Nebel und alle Mystik aus den einschlägigen mathematischen Untersuchungen verbannt wird. Nennen wir Raum die bekannte Ordnungsform der Erscheinungswelt, so ist natürlich die Rede von "Räumen", für welche z.B. das Parallelenaxiom nicht gilt, ein Widersinn. Ebenso die Rede von verschiedenen Geometrien, wofern Geometrie eben die Wissenschaft vom Raume der Erscheinungswelt genannt wird. Verstehen wir aber unter Raum die kategoriale Form des Weltraums und korrelativA: bzw.. unter Geometrie die kategoriale Theorienform der Geometrie im gemeinen Sinn, dann ordnet sich der Raum unter eine gesetzlich zu umgrenzende Gattung von rein kategorial bestimmten Mannigfaltigkeiten, mit Beziehung auf welche man dann naturgemäß von Raum in einem noch umfassenderen Sinne sprechen wird. EbensoA: Und wieder. ordnet sich die geometrische Theorie einer entsprechenden Gattung von theoretisch zusammenhängenden und rein kategorial bestimmten Theorienformen ein, die man dann in entsprechend erweitertem Sinne "Geometrien" dieser "räumlichen" Mannigfaltigkeiten nennen mag. Jedenfalls realisiert die Lehre von den "n-dimensionalen Räumen" ein theoretisch geschlossenes Stück der Theorienlehre in dem oben definierten Sinn. Die Theorie der Euklidschen Mannigfaltigkeit von drei Dimensionen ist eine letzte ideale Einzelheit in dieser gesetzlich zusammenhängenden Reihe apriorischer und rein kategorialer Theorienformen (formaler deduktiver Systeme). Diese Mannigfaltigkeit selbst ist mit Beziehung auf "unseren" Raum, d.h. den Raum im gemeinen Sinn, die ihm zugeordnete rein kategoriale Form, also die ideale Gattung, von welcher er sozusagen eine individuelle Einzelheit und nicht etwa eine spezifische Differenz ausmacht. — Ein anderes großartiges Beispiel ist die Lehre von den komplexen Zahlensystemen, innerhalb welcher die Theorie der "gemeinen" komplexen Zahlen wieder eine singuläre Einzelheit, keineA/B eine. Berichtigung nach den "Zusätzen und Verbesserungen" im II. Teil der Logischen Untersuchungen, 1901, A718. letzte spezifische Differenz ist. In Beziehung auf die hierhergehörigen Theorien sind die Arithmetiken der Anzahl, der Ordinalzahl, der Größenzahl, der quantité dirigée u. dgl. gewissermaßen lauter individuelle Einzelheiten. Jeder entspricht eine formale Gattungsidee bzw. die Lehre von den absoluten ganzen, von den reellen Zahlen, von den gemeinen komplexen Zahlen usw., wobei "Zahl" in verallgemeinert-formalem Sinn zu nehmen ist.In A Kleindruck der letzten zwei Abschnitte.

§ 71. Teilung der Arbeit. Die Leistung der Mathematiker und die der Philosophen

Dies sind also die Probleme, die wir in den Bereich der reinen oder formalen Logik in dem oben definierten Sinne rechnen, wobei wir ihrem Gebiet die größtmögliche Extension geben, welche sich mit der entworfenen Idee einer Wissenschaft von der Theorie überhaupt verträgt. Ein erheblicher Teil der ihr zugehörigen Theorien hat sich schon längst als "reine Analysis", oder besser, als formaleA: eine (zumal "formale"). Mathematik konstituiert und wird neben anderen nicht mehr im vollenA: selben. Sinne "reinen", d.i. formalen Zusatz von B. Disziplinen, wie Geometrie (als Wissenschaft "unseres" Raumes), analytische Mechanik usw., von den Mathematikern bearbeitet. Und wirklich fordert die Natur der Sache hier durchaus eine Arbeitsteilung. Die Konstruktion der Theorien, die strenge und methodische Lösung aller formalen Probleme wird immer die eigentliche Domäne des Mathematikers bleiben. Eigenartige Methoden und Forschungsdispositionen sind dabei vorausgesetzt und bei allen reinen Theorien im wesentlichen die gleichen. Neuerdings ist sogar die Ausbildung der syllogistischen Theorie, welche von jeher zur eigensten Sphäre der Philosophie gerechnet worden ist, von den Mathematikern in Anspruch und Besitz genommen worden, und sie hat unter ihren Händen eine ungeahnte Entwicklung erfahren — sie, die vermeintlich längst erledigte Theorie. Und zugleich sind auf dieser Seite Theorien neuer Schlußgattungen, welche die traditionelle Logik übersehen oder verkannt hatte, entdeckt und in echt mathematischer Feinheit ausgestaltet worden. Niemand kann es den Mathematikern verwehren, alles, was nach mathematischer Form und Methode zu behandeln ist, für sich in Anspruch zu nehmen. Nur wer die Mathematik als moderne Wissenschaft, zumal die formale Mathematik, nicht kennt und sie bloß an Euklid und Adam Riese mißt, kann noch an dem allgemeinen Vorurteil haften bleiben, als ob das Wesen des Mathematischen in Zahl und Quantität läge. Nicht der Mathematiker, sondern der Philosoph überschreitet seine natürliche Rechtssphäre, wenn er sich gegen die "mathematisierenden" Theorien der Logik wehrt und seine vorläufigen Pflegekinder nicht ihren natürlichen Eltern übergeben will. Die Geringschätzung, mit welcher die philosophischen Logiker über die mathematischen Theorien der Schlüsse zu sprechen lieben, ändert nichts daran, daß die mathematische Form der Behandlung bei diesen, wie bei allen streng entwickelten Theorien (man muß dies Wort allerdings auch im echten Sinne nehmen) die einzig wissenschaftliche ist, die einzige, welche systematische Geschlossenheit und Vollendung, welche Übersicht über alle möglichen Fragen und die möglichen Formen ihrer Lösung bietet.

Gehört aber die Bearbeitung aller eigentlichen Theorien in die Domäne der Mathematiker, was bleibt dann für den Philosophen übrig? Hier ist zu beachten, daß der Mathematiker in Wahrheit nicht der reine Theoretiker ist, sondern nur der ingeniöse Techniker, gleichsam der Konstrukteur, welcher, in bloßem Hinblick auf die formalen Zusammenhänge, die Theorie wie ein technisches Kunstwerk aufbaut. So wie der praktische Mechaniker Maschinen konstruiert, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen der Natur und ihrer Gesetzlichkeit besitzen zu müssen, so konstruiert der Mathematiker Theorien der Zahlen, Größen, Schlüsse, Mannigfaltigkeiten, ohne dazu letzte Einsicht in das Wesen von Theorie überhaupt und in das Wesen ihrer sie bedingenden Begriffe und Gesetze besitzen zu müssen. Ähnlich verhält es sich ja bei allen "Spezialwissenschaften". Das πρότερον δὲ τῇ φύσει ist eben nicht das πρότερον πρòς ήμάς. Die wesenhafte Einsicht ist es zum Glück nicht, welche die Wissenschaft im gemeinen, praktisch so fruchtbaren Sinne möglich macht, sondern wissenschaftlicher Instinkt und Methode. Eben darum bedarf es neben der ingeniösen und methodischen Arbeit der Einzelwissenschaften, welche mehr auf praktische Erledigung und Beherrschung, als auf wesenhafte Einsicht gerichtet ist, einer fortlaufenden "erkenntniskritischen" und ausschließlich dem Philosophen zufallenden Reflexion, welche kein anderes als das rein theoretische Interesse walten läßt und diesem auch zu seinem Rechte verhilft. Die philosophische Forschung setzt ganz andere Methoden und Dispositionen voraus, wie sie sich ganz andere Ziele stellt. Sie will dem Spezialforscher nicht ins Handwerk pfuschen, sondern nur über Sinn und Wesen seiner Leistungen in Beziehung auf Methode und Sache zur Einsicht kommen. Dem Philosophen ist es nicht genug, daß wir uns in der Welt zurechtfinden, daß wir Gesetze als Formeln haben, nach denen wir den künftigen Verlauf der Dinge Voraussagen, den vergangenen rekonstruieren können; sondern was das Wesen von "Ding", "Vorgang", "Ursache", "Wirkung", "Raum", "Zeit" u. dgl. istA: "Dinge", "Vorgänge", "Naturgesetze" u. dgl. im Wesen sind. , will er zur Klarheit bringen; und weiter, was dieses Wesen für wunderbare Affinität zu dem Wesen des Denkens hat, daß es gedacht, des Erkennens, daß es erkannt, der Bedeutungen, daß es bedeutet sein kann, usfZusatz von B.. Und baut die Wissenschaft Theorien zur systematischen Erledigung ihrer Probleme, so fragt der Philosoph, was das Wesen der Theorie ist, was Theorie überhaupt möglich macht u. dgl. Erst die philosophische Forschung ergänzt die wissenschaftlichen Leistungen des Naturforschers und Mathematikers so, daß sich reine und echte theoretische Erkenntnis vollendet. Die ars inventiva des Spezialforschers und die Erkenntniskritik des Philosophen, das sind ergänzende wissenschaftliche Betätigungen, durch welche erst die volle, alle WesensbeZiehungen umspannendeA: und ganze. theoretische Einsicht zustande kommt.

Die nachfolgenden Einzeluntersuchungen zur Vorbereitung unserer Disziplin nach ihrer philosophischen Seite werden übrigens offenkundig machen, was der Mathematiker nicht leisten will und kann, und was doch geleistet werden muß.

10 § 72. Erweiterung der Idee der reinen Logik. Die reine Wahrscheinlichkeitslehre als reine Theorie der Erfahrungserkenntnis

Der Begriff der reinen Logik, wie wir ihn bisher entwickelt haben, umfaßt einen theoretisch geschlossenen Kreis von Problemen, die sich auf die Idee der Theorie wesentlich beziehen. Sofern keine Wissenschaft möglich ist ohne Erklärung aus Gründen, also ohne Theorie, umspannt die reine Logik in allgemeinster Weise die idealen Bedingungen der Möglichkeit von Wissenschaft überhaupt. Andererseits ist aber zu beachten, daß die so gefaßte Logik darum noch keineswegs die idealen Bedingungen der Erfahrungswissenschaft überhaupt als speziellen Fall in sich schließt. Die Frage nach diesen Bedingungen ist allerdings die eingeschränktere; Erfahrungswissenschaft ist auch Wissenschaft, und selbstverständlich untersteht sie nach ihrem Gehalt an Theorien den Gesetzen der oben abgegrenzten Sphäre. Aber Idealgesetze bestimmen die Einheit der Erfahrungswissenschaften nicht bloß in Form der Gesetze deduktiver Einheit; wie denn Erfahrungswissenschaften ja auch nicht auf ihre bloßen Theorien je zu reduzieren sind. Die Theoretische OptikIn A in Anführungszeichen., d.i. die mathematische Theorie der Optik, erschöpft nicht die Wissenschaft der Optik; die mathematische Mechanik ist ebenso nicht die ganze Mechanik usw. Nun steht aber der ganze komplizierte Apparat von Erkenntnisprozessen, in welchen die Theorien der Erfahrungswissenschaften erwachsen und sich vielfach im Laufe des wissenschaftlichen Fortschritts modifizieren, ebenfalls nicht nur unter empirischen, sondern auch unter idealen Gesetzen.

Alle Theorie in den Erfahrungswissenschaften ist bloß suppo-nierte Theorie. Sie gibt nicht Erklärung aus einsichtig gewissen, sondern nur aus einsichtig wahrscheinlichen Grundgesetzen. So sind die Theorien selbst nur von einsichtiger Wahrscheinlichkeit, sie sind nur vorläufige, nicht endgültige Theorien. Ähnliches gilt in gewisser Weise auch von den theoretisch zu erklärenden Tatsachen. Von ihnen gehen wir zwar aus, sie gelten uns als gegeben, und wir wollen sie bloß "erklären". Indem wir aber zu den erklärenden Hypothesen aufsteigen, sie durch Deduktion und Verifikation — eventuell nach mehrfacher Umänderung — als wahrscheinliche Gesetze annehmen, bleiben auch die Tatsachen selbst nicht ganz unverändert bestehen, auch sie wandeln sich im fortschreitenden Erkenntnisprozeß um. Mittels des Erkenntniszuwachses der als brauchbar befundenen Hypothesen dringen wir immer tiefer in das "wahre Wesen" des realen Seins ein, wir berichtigen fortschreitend unsere mit mehr oder weniger Unverträglichkeiten behaftete Auffassung der erscheinenden Dinge. Tatsachen sind uns eben ursprünglich nur in dem Sinne der Wahrnehmung (und ähnlich im Sinne der Erinnerung) "gegeben". In der Wahrnehmung stehen uns die Dinge und Vorgänge vermeintlich selbst gegenüber, sozusagen scheidewandlos erschaut und ergriffen. Und was wir da anschauen, sprechen wir in Wahrnehmungsurteilen aus; dies sind die zunächst "gegebenen TatSachen" der Wissenschaft. Im Fortschritt der Erkenntnis modifiziert sich dann aber, was wir den Wahrnehmungserscheinungen an "wirklichem’’ Tatsachengehalt zugestehen; die anschaulich gegebenen Dinge — die Dinge der "sekundären Qualitäten" — gelten nur noch als "bloße Erscheinungen" ; Zusatz von B. und um jeweils zu bestimmen, was in ihnen das Wahre ist, mit anderen Worten: um den empirischen Gegenstand der Erkenntnis objektiv┐1 zu bestimmen, bedürfen wir einer dem Sinn dieser Objektivität angepaßten Methode und eines durch sie zu gewinnendenA: eines beträchtlichen. (und sich fortschreitend erweiternden) Bereiches an wissenschaftlicher Gesetzeserkenntnis.

In allem empirischen Verfahren objektiver Tatsachenwissenschaft herrscht aber, wie schon Descartes und Leibniz erkannt haben, nicht eine psychologische Zufälligkeit, sondern eine ideale Norm.A: In all dem verfahren wir aber, wie schon Leibniz, und mit voller Schärfe wohl als der erste, betont hat, nicht blind, nicht ohne ein ideales Recht. Wir erheben den Anspruch, daß es jeweils nur einIn A nicht gesperrt, jedoch großgeschrieben. berechtigtes Verhalten in der Wertschätzung der erklärenden Gesetze und in der Bestimmung der wirklichen Tatsachen gebe, und zwar für jede erreichte Stufe der Wissenschaft. Wenn sich durch Zufluß neuer empirischer Instanzen eine wahrscheinliche Gesetzlichkeit oder Theorie als unhaltbar herausstellt, so schließen wir daraus nicht, daß die wissenschaftliche Begründung dieser Theorie eine falsche gewesen sein mußte. Im Bereiche früherer Erfahrung war die frühere, im Bereiche der erweiterten Erfahrung ist die neu zu be|gründende Theorie die "einzig richti- ge", sie ist die einzige durch korrekte empirische ErwägungA: Wahrscheinlichkeitserwägung. zu rechtfertigende. Umgekehrt urteilen wir vielleicht, daß eine empirische Theorie falsch begründet sei, obschon sich vielleicht auf einem anderen, objektiv berechtigten Wege herausstellt, daß sie bei dem gegebenen Stande der Erfahrungserkenntnis die einzig angemessene ist A: sei.. Daraus ist zu entnehmen, daß es auch im Gebiete des empirischen Denkens, in der Sphäre der Wahrscheinlichkeiten, ideale Elemente und Gesetze geben muß, in denen die Möglichkeit der empirischen Wissenschaft überhaupt, der Wahrscheinlichkeitserkenntnis von Realem A: , der Wahrscheinlichkeitserkenntnis von Realem, überhaupt. a priori gründet. Diese Sphäre reiner Gesetzlichkeit, welche nicht zur Idee der Theorie, und allgemeiner zur Idee der Wahrheit, sondern zur Idee der empirischen ErklärungseinheitIn A nicht gesperrt. resp. zur Idee der Wahrscheinlichkeit Beziehung hat, macht ein zweites großes Fundament der logischen Kunstlehre aus und gehört mit zum Gebiet der reinen Logik in einem entsprechend weit zu fassenden Sinne.

In den folgenden Einzeluntersuchungen beschränken wir uns auf das engere und, in der wesentlichen Ordnung der Materien, erste Gebiet.

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First Edition
(1900) "Die Idee der reinen Logik", in: Husserl Edmund, Logische Untersuchungen. Erster Theil, Halle (Saale), Niemeyer, pp.228-257.