Die Logik als normative und speziell als praktische Disziplin

Edmund Husserl

pp. 25-43


§ 4. Die theoretische Unvollkommenheit der Einzelwissenschaften

Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Vorzüglichkeit, mit der ein Künstler seinen Stoff meistert, und daß das entschiedene und oft sichere Urteil, mit dem er Werke seiner Kunst abschätzt, nur ganz ausnahmsweise auf einer theoretischen Erkenntnis der Gesetze beruht, welche dem Verlauf der praktischen Betätigungen ihre Richtung und Anordnung vorschreiben und zugleich die wertenden Maßstäbe bestimmen, nach denen die Vollkommenheit oder Unvollkommenheit des fertigen Werkes abzuschätzen ist. In der Regel ist der ausübende Künstler nicht derjenige, welcher über die Prinzipien seiner Kunst die rechte Auskunft zu geben vermag. Er schafft nicht nach Prinzipien und wertet nicht nach Prinzipien. Schaffend folgt er der inneren Regsamkeit seiner harmonisch gebildeten Kräfte, und urteilend dem fein ausgebildeten künstlerischen Takt und Gefühl. So verhält es sich aber nicht allein bei den schönen Künsten, an die man zunächst gedacht haben mag, sondern bei den Künsten überhaupt, das Wort im weitesten Sinne genommen. Es trifft also auch die Betätigungen des wissenschaftlichen Schaffens und die theoretische Schätzung seiner Ergebnisse, der wissenschaftlichen Begründungen von Tatsachen, Gesetzen, Theorien. Selbst der Mathematiker, Physiker und Astronom bedarf zur Durchführung auch der bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen nicht der Einsicht in die letzten Gründe seines Tuns, und obschon die gewonnenen Ergebnisse für ihn und andere die Kraft vernünftiger Überzeugung besitzen, so kann er doch nicht den Anspruch erheben, überall die letzten Prämissen seiner Schlüsse nachgewiesen und die Prinzipien, auf denen die Triftigkeit seiner Methoden beruht, erforscht zu haben. Damit aber hängt der unvollkommene Zustand aller Wissenschaften zusammen. Wir meinen hier nicht die bloße Unvollständigkeit, mit der sie die Wahrheiten ihres Gebietes erforschen, sondern den Mangel an innerer Klarheit und Rationalität, die wir unabhängig von der Ausbreitung der Wissenschaft fordern müssen. In dieser Hinsicht darf auch die Mathematik, die fortgeschrittenste aller Wissenschaften, eine Ausnahmestellung nicht beanspruchen. Vielfach gilt sie noch als das Ideal aller Wissenschaft überhaupt; aber wie wenig sie dies in Wahrheit ist, lehren die alten und noch immer nicht endgültigZusatz von B. erledigten Streitfragen über die Grundlagen der Geometrie, so wie die nach den berechtigtenA: berechtigenden. Gründen der Methode des Imaginären. Dieselben Forscher, die mit unvergleichlicher Meisterschaft die wundervollen Methoden der Mathematik handhaben und sie um neue bereichern, zeigen sich oft gänzlich unfähig, von der logischen Triftigkeit dieser Methoden und den Grenzen ihrer berechtigten Anwendung ausreichende Rechenschaft zu geben. Obschon nun die Wissenschaften trotz dieser Mängel groß geworden sind und uns zu einer früher nie geahnten Herrschaft über die Natur verholfen haben, so können sie uns doch nicht theoretisch Genüge tun. Sie sind nicht kristallklare Theorien, in denen die Funktion aller Begriffe und Sätze völlig begreiflich, alle VorausSetzungen genau analysiert, und somit das Ganze über jeden theoretischen Zweifel erhaben wäre.

§ 5. Die theoretische Ergänzung der Einzelwissenschaften durch Metaphysik und Wissenschaftslehre

Um dieses theoretische Ziel zu erreichen, bedarf es, wie ziemlich allgemein anerkannt ist, fürs erste einer Klasse von Untersuchungen, die in das Reich der Metaphysik gehören.

Die Aufgabe derselben ist nämlich, die ungeprüften, meistens sogar unbemerkten und doch so bedeutungsvollen Voraussetzungen metaphysischer Art zu fixieren und zu prüfen, die mindestensallen Wissenschaften, welche auf die reale Wirklichkeit gehen, zugrunde liegen. Solche Voraussetzungen sind z.B., daß es eine Außenwelt gibt, welche nach Raum und Zeit ausgebreitet ist, wobei der Raum den mathematischen Charakter einer dreidimensionalen Euklidischen, die Zeit den einer eindimensionalen orthoiden Mannigfaltigkeit hat; daß alles Werden dem Kausalitätsgesetz unterliegt usw. Unpassend genug pflegt man diese durchaus in den Rahmen der Ersten Philosophie des Aristoteles gehörigen Voraussetzungen gegenwärtig als erkenntnistheoretische zu bezeichnen.

Diese metaphysische Grundlegung reicht aber nicht aus, um die gewünschte theoretische Vollendung der Einzelwissenschaften zu erreichen; sie betrifft ohnehin bloß die Wissenschaften, welche es mit der realen Wirklichkeit zu tun haben, und das tun doch nicht alle, sicher nicht die rein mathematischen Wissenschaften, deren Gegenstände Zahlen, Mannigfaltigkeiten u. dgl. sind, die unabhängig von realem Sein oder Nichtsein als bloße Träger rein idealer Bestimmungen gedacht sind. Anders verhält es sich mit einer zweiten Klasse von Untersuchungen, deren theoretische Erledigung ebenfalls ein unerläßliches Postulat unseres Erkennt-nisstrebens bildet; sie gehen alle Wissenschaften in gleicher Weise an, weil sie, kurz gesagt, auf das gehen, was Wissenschaften überhaupt zu Wissenschaften macht. Hierdurch aber ist das Gebiet einer neuen und, wie sich alsbald zeigen wird, komplexen Disziplin bezeichnet, deren Eigentümliches es ist, Wissenschaft von der Wissenschaft zu sein, und die eben darum am prägnantesten als Wissenschaftslehre zu benennen wäre.

§ 6. Die Möglichkeit und Berechtigung einer Logik als Wissenschaftslehre

Die Möglichkeit und die Berechtigung einer solchen Disziplin — als einer zur Idee der Wissenschaft gehörigen normativen und praktischen Disziplin — kann durch folgende Überlegung begründet werden.

Wissenschaft geht, wie der Name besagt, auf Wissen. Nicht als ob sie selbst eine Summe oder ein Gewebe von Wissensakten wäre. Objektiven Bestand hat die Wissenschaft nur in ihrer Literatur, nur in der Form von Schriftwerken hat sie ein eigenes, wenn auchzu dem Menschen und seinen intellektuellen Betätigungen beziehungsreiches Dasein; in dieser Form pflanzt sie sich durch die Jahrtausende fort und überdauert die Individuen, Generationen und Nationen. Sie repräsentiert so eine Summe äußerer Veranstaltungen, die, wie sie aus Wissensakten vieler Einzelner hervorgegangen sind, wieder in eben solche Akte ungezählter Individuen übergehen können, in einer leicht verständlichen, aber nicht ohne Weitläufigkeiten exakt zu beschreibenden Weise. Uns genügt hier, daß die Wissenschaft gewisse nähere Vorbedingungen für die Erzeugung von Wissensakten beistellt bzw. beistellen soll, reale Möglichkeiten des Wissens, deren Verwirklichung von dem "normalen" bzw. "entsprechend begabten" Menschen unter bekannten "normalen" Verhältnissen als ein erreichbares Ziel seines Wollens angesehen werden kann. In diesem Sinne also zielt die Wissenschaft auf Wissen.

Im Wissen aber besitzen wir die Wahrheit. Im aktuellen Wissen, worauf wir uns letztlich zurückgeführt sehen, besitzen wir sie als Objekt eines richtigen Urteils. Aber dies allein reicht nicht aus; denn nicht jedes richtige Urteil, jede mit der Wahrheit übereinstimmende Setzung oder Verwerfung eines Sachverhalts ist ein Wissen vom Sein oder Nichtsein dieses Sachverhalts. Dazu gehört vielmehr — soll von einem Wissen im engsten und strengsten Sinne die Rede sein — die Evidenz, die lichtvolle Gewißheit, daß ist, was wir anerkannt, oder nicht ist, was wir verworfen haben; eine Gewißheit, die wir in bekannter Weise scheiden müssen von der blinden Überzeugung, vom vagen und sei es noch so fest entschiedenen Meinen, wofern wir nicht an den Klippen des extremen Skeptizismus scheitern sollen. Bei diesem strengen Begriffe des Wissens bleibt die gemeinübliche Redeweise aber nicht stehen. Wir sprechen z.B. von einem Wissensakt auch da, wo mit dem gefällten Urteil zugleich die klare Erinnerung verknüpft ist, daß wir früher ein von Evidenz begleitetes Urteil identisch desselben Gehaltes gefällt haben, und besonders, wo die Erinnerung auch einen beweisenden Gedankengang betrifft, aus dem diese Evidenz hervorgewachsen ist und den zugleich mit dieser Evidenz wiederzuerzeugen wir uns mit Gewißheit Zutrauen. ("Ich weiß, daß der Pythagoräische Lehrsatz wahr istA: besteht. — ichkann ihn beweisen"; statt des letzteren kann es allerdings auch heißen: — "aber ich habe den Beweis vergessen.")

So fassen wir überhaupt den Begriff des Wissens in einem weiteren, aber doch nicht ganz laxen Sinne; wir scheiden ihn ab von dem grundlosen Meinen und beziehen uns hierbei auf irgendwelche "Kennzeichen" für das BestehenA: die Wahrheit. des angenommenen Sachverhalts bzw. für die Richtigkeit des gefällten Urteils. Das vollkommenste Kennzeichen der Richtigkeit ist die Evidenz, es gilt uns als unmittelbares Innewerden der Wahrheit selbst. In der unvergleichlichen Mehrheit der Fälle entbehren wir dieser absoluten Erkenntnis der Wahrheit, statt ihrer dient uns (man denke nur an die Funktion des Gedächtnisses in den obigen Beispielen) die Evidenz für die mehr oder minder hohe Wahrscheinlichkeit des Sachverhalts, an welche sich bei entsprechend "erheblichen" Wahrscheinlichkeitsgraden das fest entschiedene Urteil anzuschließen pflegt. Die Evidenz der Wahrscheinlichkeit eines Sachverhalts A begründet zwar nicht die Evidenz seiner Wahrheit, aber sie begründet jene vergleichenden und evidenten Wertschätzungen, vermöge deren wir je nach den positiven oder negativen Wahrscheinlichkeitswerten vernünftige von unvernünftigen, besser begründete von schlechter begründeten Annahmen, Meinungen, Vermutungen zu scheiden vermögen. Im letzten Grunde beruht also jede echte und speziell jede wissenschaftliche Erkenntnis auf Evidenz, und so weit die Evidenz reicht, so weit reicht auch der Begriff des Wissens.

Trotzdem bleibt eine Doppelheit im Begriff des Wissens (oder was uns als gleichbedeutend gilt: der Erkenntnis) bestehen. Wissen im engsten Sinne des Wortes ist Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt besteht oder nicht bestehtA: gilt oder nicht gilt.; z.B. daß S P ist oder nicht ist; also ist auch die Evidenz davon, daß ein gewisser Sachverhalt in dem oder jenem Grade wahrscheinlich ist, in Beziehung darauf, daß er dies ist, ein Wissen im engsten Sinne; dagegen liegt hier in Beziehung auf den BestandA: die Geltung. des Sachverhaltes selbst (und nicht seiner Wahrscheinlichkeit) ein Wissen im weiteren, geänderten Sinne vor. In diesem letzteren spricht man, den Wahrscheinlichkeitsgraden entsprechend, von einem bald größeren, bald geringeren Ausmaß von Wissen, und es gilt das Wissen im prägnanteren Sinne — die Evidenz davon, daß S P sei — als die absolut feste, ideale Grenze, der sich die Wahrscheinlichkeiten für das P-Sein des S in ihrer Steigerungsfolge asymptotisch annähern.In A schließt der Absatz mit einem Gedankenstrich.

Zum Begriff der Wissenschaft und ihrer Aufgabe gehört nun aber mehr als bloßes Wissen. Wenn wir innere Wahrnehmungen, einzeln oder gruppenweise, erleben und als daseiend anerkennen, so haben wir Wissen, aber noch lange nicht Wissenschaft. Und nicht anders verhält es sich mit zusammenhangslosen Gruppen von Wissensakten überhaupt. Zwar Mannigfaltigkeit des Wissens, aber nicht bloßeIn A nicht gesperrt. Mannigfaltigkeit will die Wissenschaft uns geben. Auch die sachliche Verwandtschaft macht noch nicht die ihr eigentümliche Einheit in der Mannigfaltigkeit des Wissens aus. Eine Gruppe vereinzelter chemischer Erkenntnisse würde gewiß nicht die Rede von einer chemischen Wissenschaft berechtigen. Offenbar ist mehr erfordert, nämlich systematischer Zusammenhang im theoretischen Sinne, und darin liegt Begründung des Wissens und gehörige Verknüpfung und Ordnung in der Folge der Begründungen.

Zum Wesen der Wissenschaft gehört also die Einheit des Begründungszusammenhanges, in dem mit den einzelnen Erkenntnissen auch die Begründungen selbst und mit diesen auch die höheren Komplexionen von Begründungen, die wir Theorien nennen, eine systematische Einheit erhalten. Ihr Zweck ist es eben, nicht Wissen schlechthin, sondern Wissen in solchem Ausmaße und in solcher Form zu vermitteln, wie es unseren höchsten theoretischen Zielen in möglichster Vollkommenheit entspricht.

Daß uns die systematische Form als die reinste Verkörperung der Idee des Wissens erscheint, und daß wir sie praktisch anstreben, darin äußert sich nicht etwa ein bloß ästhetischer Zug unserer Natur. Die Wissenschaft will und darf nicht das Feld eines architektonischen Spiels sein. Die Systematik, die der Wissenschaft eignet, natürlich der echten und rechten Wissenschaft, erfinden wir nicht, sondern sie liegt in den Sachen, wo wir sie einfach vorfinden, entdecken. Die Wissenschaft will das Mittel sein, unserem Wissen das Reich der Wahrheit, und zwar in größtmöglichem Umfange, zu erobern; aber das Reich der Wahrheit ist kein ungeordnetes Chaos, es herrscht in ihm Einheit der Gesetzlichkeit; und so muß auch die Erforschung und Darlegung der Wahrheiten systematisch sein, sie muß deren systematische Zusammenhänge widerspiegeln und sie zugleich als Stufenleiter des Fortschrittes benützen, um von dem uns gegebenen oder bereits gewonnenen Wissen aus in immer höhere Regionen des Wahrheitsreiches eindringen zu können.

Dieser hilfreichen StufenleiterA: Stufenleitern. kann sie nicht entraten. Die Evidenz, auf der schließlich alles Wissen beruht, ist nicht eine natürliche Beigabe, die sich mit der bloßen Vorstellung der Sachverhalte und ohne jede methodisch-künstlichen Veranstaltungen einfindet. Anderenfalls wären die Menschen auch nie darauf verfallen, Wissenschaften aufzubauen. Methodische Umständlichkeiten verlieren ihren Sinn, wo mit der Intention schon der Erfolg gegeben ist. Wozu die Begründungsverhältnisse erforschen und Beweise konstruieren, wenn man der Wahrheit in unmittelbarem Innewerden teilhaftig wird? Faktisch stellt sich aber die Evidenz, die den vorgestellten Sachverhalt als beste-hendA: Falschheit., bzw. die Absurdität, die ihn als nicht bestehend┐3 stempelt (und ähnlich in Hinsicht auf Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit), nur bei einer relativ höchst beschränkten Gruppe primitiver Sachverhalte unmittelbar ein; unzählige wahre Sätze erfassen wir als Wahrheiten nur dann, wenn sie methodisch "begründet" werden, d.h. in diesen Fällen stellt sich im bloßen Hinblick auf den Satzgedanken, wenn überhaupt urteilsmäßige Entscheidung, so doch nicht Evidenz ein; aber es stellt sich, gewisse normale Verhältnisse vorausgesetzt, beides zugleich ein, sowie wir von gewissen Erkenntnissen ausgehen und dann einen gewissen Gedankenweg zu dem intendierten Satze einschlagen. Es mag für denselben Satz mannigfaltige Begründungswege geben, die einen von diesen, die anderen von jenen Erkenntnissen auslaufend; aber charakteristisch und wesentlich ist der Umstand, daß es unendliche Mannigfaltigkeiten von Wahrheiten gibt, die ohne dergleichen methodische Prozeduren nimmermehr in ein Wissen verwandelt werden können.

Und daß es sich so verhält, daß wir Begründungen brauchen, um in der Erkenntnis, im Wissen über das unmittelbar Evidente und darum Triviale hinauszukommen, das macht nicht nur Wissenschaften möglich und nötig, sondern mit den Wissenschaften auch eine Wissenschaftslehre, eine Logik. Verfahren alle Wissenschaften methodisch im Verfolge der Wahrheit, haben sie alle mehr oder minder künstliche Hilfsmittel in Gebrauch, um Wahrheiten bzw. Wahrscheinlichkeiten, die sonst verborgen blieben, zur Erkenntnis zu bringen, und um das Selbstverständ|liche oder bereits Gesicherte als Hebel zu nützen für die Erreichung von Entlegenem, nur mittelbar Erreichbarem: dann dürfte doch die vergleichende Betrachtung dieser methodischen Hilfen, in denen die Einsichten und Erfahrungen ungezählter Forschergenerationen aufgespeichert sind, Mittel an die Hand geben, um allgemeine Normen für solche Verfahrungsweisen aufzustellen und desgleichen auch Regeln für die erfindende Konstruktion derselben je nach den verschiedenen Klassen von Fällen.

§ 7. Fortsetzung. Die drei bedeutsamsten Eigentümlichkeiten der Begründungen

Überlegen wir, um etwas tiefer in die Sache zu dringen, die bedeutsamsten Eigentümlichkeiten dieser merkwürdigen Gedankenverläufe, die wir Begründungen nennen.

Sie haben, um auf ein Erstes hinzuweisen, in Beziehung auf ihren Gehalt den Charakter fester Gefüge. Nicht können wir, um zu einer gewissen Erkenntnis, z.B. der des Pythagoräischen Lehrsatzes, zu gelangen, ganz beliebige aus den unmittelbar gegebenen Erkenntnissen zu Ausgangspunkten wählen, und nicht dürfen wir im weiteren Verlaufe beliebige Gedankenglieder einfügen und ausschalten: soll die Evidenz des zu begründenden Satzes wirklich aufleuchten, die Begründung also wahrhaft Begründung sein.

Noch ein Zweites merken wir alsbald. Von vornherein, d.h. vor dem vergleichenden Hinblick auf die Beispiele von Begründungen, die uns von überall her in Fülle Zuströmen, möchte es als denkbar erscheinen, daß jede Begründung nach Gehalt und Form ganz einzigartig sei. Eine Laune der Natur — dies dürften wir zunächst wohl für einen möglichen Gedanken halten — könnte unsere geistige Konstitution so eigensinnig gebildet haben, daß die uns jetzt so vertraute Rede von mannigfachen Begründungsformen eines jeden Sinnes bar und als Gemeinsames bei der Vergleichung irgendwelcher Begründungen immer nur das eine zu konstatieren wäre: Daß eben ein Satz S, der für sich evidenzlos ist, den Charakter der Evidenz er|hält, wenn er im Zusammen- hang auftritt mit gewissen, ihm ohne jedes rationale Gesetz ein für allemal zugeordneten Erkenntnissen P1P2... Aber so steht die Sache nicht. Nicht hat eine blinde Willkür irgendeinen Haufen von Wahrheiten P1P2... S zusammengerafft und dann den menschlichen Geist so eingerichtet, daß er an die Erkenntnis der P1P2... unweigerlich (bzw. unter "normalen" Umständen) die Erkenntnis von S anknüpfen muß. In keinem einzigen Falle verhält es sich so. Nicht Willkür und Zufall herrscht in den Begründungszusammenhängen, sondern Vernunft und Ordnung, und das heißt: regelndes Gesetz. Kaum bedarf es eines Beispiels zur Verdeutlichung. Wenn wir in einer mathematischen Aufgabe, die ein gewisses Dreieck ABC betrifft, den Satz anwenden "ein gleichseitiges Dreieck ist gleichwinklig", so vollziehen wir eine Begründung, die expliziert lautet: Jedes gleichseitige Dreieck ist gleichwinklig, das Dreieck ABC ist gleichseitig, also ist es gleichwinklig. Setzen wir daneben die arithmetische Begründung: Jede dekadische Zahl mit gerader Endziffer ist eine gerade Zahl, 364 ist eine dekadische Zahl mit gerader Endziffer, also ist sie eine gerade Zahl. Wir bemerken sofort, daß diese Begründungen etwas Gemeinsames haben, eine gleichartige innere Konstitution, die wir verständlich ausdrücken in der "Schlußform": Jedes A ist B, X ist A, also ist XB. Aber nicht bloß diese zwei Begründungen haben diese gleiche Form, sondern ungezählte andere. Und noch mehr. Die Schlußform repräsentiert einen Klassenbegriff, unter den die unendliche Mannigfaltigkeit von Sätzeverknüpfungen der in ihr scharf ausgeprägten Konstitution fällt. Zugleich besteht aber das apriorische Gesetz, daß jede vorgebliche Begründung, die ihr gemäß verläuft, auch wirklich eine richtige ist, wofern sie überhaupt von richtigen Prämissen ausgeht.

Und dies gilt allgemein. Wo immer wir von gegebenen Erkenntnissen begründend aufsteigen zu neuen, da wohnt dem Begründungswege eine gewisse Form ein, die ihm gemeinsam ist mit unzähligen anderen Begründungen, und die in gewisser Beziehung steht zu einem allgemeinen Gesetze, das alle diese einzelnen Begründungen mit einem Schlage zu rechtfertigen gestattet. Keine Begründung steht, dies ist die höchst merkwürdige Tatsache, isoliert. Keine knüpft Erkenntnisse an Erkenntnisse, ohne daß, sei es in dem äußerlichen Modus der Verknüpfung, sei es in diesem und zugleich in dem inneren Bau der einzelnen Sätze, ein bestimmter Typus ausgeprägt wäre, der, in allgemeine Begriffe gefaßt, sofort zu einem allgemeinen, auf eine Unendlichkeit möglicher Begründungen bezüglichen Gesetze überleitet.

Endlich sei noch ein Drittes als merkwürdig hervorgehoben. Von vornherein, d.h. vor der Vergleichung der Begründungen verschiedener Wissenschaften, möchte man den Gedanken für möglich halten, daß die Begründungsformen an Erkenntnisgebiete gebunden seien. Wenn schon nicht überhaupt mit den Klassen von Objekten die zugehörigen Begründungen wechseln, so könnte es doch sein, daß sich die Begründungen nach gewissen sehr allgemeinen Klassenbegriffen, etwa denjenigen, welche die Wissenschaftsgebiete abgrenzen, scharf sondern. Ist es also nicht so, daß keine Begründungsform existiert, die zwei Wissenschaften gemeinsam ist, der Mathematik z.B. und der Chemie? Indessen auch dies ist offenbar nicht der Fall, wie schon das obige Beispiel lehrt. Keine Wissenschaft, in der nicht Gesetze auf singuläre Fälle übertragen würdenFehlt in A., also Schlüsse der uns als Beispiel dienenden Form öfter aufträtenA: auftreten würden.. Und dasselbe gilt von vielen Schlußarten sonst. Ja wir werden sagen dürfen, daß alle anderen Schlußarten sich so verallgemeinern, sich so "rein" fassen lassen, daß sie von jeder wesentlichen Beziehung auf ein konkret beschränktes Erkenntnisgebiet frei werden.

§ 8. Die Beziehung dieser Eigentümlichkeiten zur Möglichkeit von Wissenschaft und Wissenschaftslehre

Diese Eigentümlichkeiten der Begründungen, deren Merkwürdigkeit uns nicht auffällt, weil wir allzuwenig geneigt sind, das Alltägliche zum Problem zu machen, stehen in ersichtlicher Beziehung zur Möglichkeit einer Wissenschaft und weiterhin einer Wissenschaftslehre.

Daß es Begründungen gibt, reicht in dieser Beziehung nicht hin. Wären sie form- und gesetzlos, bestände nicht dieseA: die. fundamentale Wahrheit, daß allen Begründungen eine gewisse "Form" einwohnt, die nicht dem hic et nunc vorliegenden Schlusse (dem einfachen oder noch so komplizierten) eigentümlich, sondern für eine ganze Klasse von Schlüssen typisch ist, und daß zugleich die Richtigkeit der Schlüsse dieser ganzen Klasse eben durch ihre Form verbürgt ist, bestände vielmehr in all dem das Gegenteil — dann gäbe es keine Wissenschaft. Das Reden von einer Methode, von einem systematisch geregelten Fortschritt von Erkenntnis zu Erkenntnis, hätte keinen Sinn mehr, jeder Fortschritt wäre Zufall. Da würden einmal zufällig die Sätze P1P2... in unserem Bewußtsein Zusammentreffen, die dem Satze S die Evidenz zu verleihen fähig sind, und richtig würde die Evidenz aufleuchten. Es wäre nicht mehr möglich, aus einer zustande gekommenen Begründung für die Zukunft das Geringste zu lernen in Beziehung auf neue Begründungen von neuer Materie; denn keine Begründung hätte etwas Vorbildliches für irgendeine andere, keine verkörperte in sich einen Typus, und so hätte auch keine Urteilsgruppe, als Prämissensystem gedacht, etwas Typisches an sich, das sich uns (ohne begriffliche Hervorhebung, ohne Rekurs auf die explizierte "Schlußform") im neuen Falle und bei Gelegenheit ganz anderer "Materien" aufdrängen undIn A folgt: nach den Gesetzen der Ideenassoziation. die Gewinnung einer neuen Erkenntnis erleichtern könnte. Nach einem Beweis für einen vorgegebenen Satz forschen, hätte keinen Sinn. Wie sollten wir dies auch anstellen? Sollten wir alle möglichen Satzgruppen durchprobieren, ob sie als Prämissen für den vorliegenden Satz brauchbar seien? Der Klügste hätte hier vor dem Dümmsten nichts voraus, und es ist fraglich, ob er vor ihm überhaupt noch etwas Wesentliches voraus hätteA: es ist überhaupt fraglich, ob er vor ihm noch etwas Wesentliches voraus hätte.. Eine reiche Phantasie, ein umfassendes Gedächtnis, die Fähigkeit angespannter Aufmerksamkeit und dgl. mehr sind schöne Dinge, aber intellektuelle Bedeutung gewinnen sie nur bei einem den|kenden Wesen, dessen Begründen und Erfinden unter gesetzlichen Formen steht.

Denn es gilt allgemein, daß in einer beliebigen psychischen Komplexion nicht bloß die Elemente, sondern auch die verknüpfenden Formen assoziative bzw. reproduktive Wirksamkeit üben. So kann sich also die Form unserer theoretischen Gedanken und Gedankenzusammenhänge als förderlich erweisen. Wie z.B. die Form gewisser Prämissen den zugehörigen Schlußsatz mit besonderer Leichtigkeit hervorspringen läßt, weil uns früher Schlüsse derselben Form gelungen waren, so kann auch die Form eines zu beweisenden Satzes gewisse Begründungsformen in Erinnerung bringen, welche ähnlich geformte Schlußsätze früher ergeben hatten. Ist es auch nicht klare und eigentliche Erinnerung, so ist es doch ein Analogon davon, gewissermaßen latente Erinnerung, es ist "unbewußte Erregung" (im Sinne B. Erdmanns); jedenfalls ist es etwas, das sich für das leichtere Gelingen von Beweiskonstruktionen (und nicht allein in den Gebieten, wo die argumenta in forma vorherrschen, wie in der Mathematik) höchst förderlich zeigt. Der geübte Denker findet leichter Beweise als der ungeübte, und warum dies? Weil sich ihm die Typen der Beweise durch mannigfache Erfahrung immer tiefer eingegraben haben und darum für ihn viel leichter wirksam und die Gedankenrichtung bestimmend sein müssen. In gewissem Umfang übt das wissenschaftliche Denken beliebiger Gattung für wissenschaftliches Denken überhaupt; daneben aber gilt, daß in besonderem Maß und Umfang das mathematische Denken speziell für Mathematisches, das physikalische speziell für Physikalisches prädisponiert usw. Ersteres beruht auf dem Bestande typischer Formen, die allen Wissenschaften gemein sind, letzteres auf dem Bestande anderer (eventuell als bestimmt gestaltete Komplexionen jener zu charakterisierenden) Formen, die zu der Besonderheit der einzelnen Wissenschaften ihre besondere Be|ziehung haben. Die Eigenheiten des wissenschaftlichen Taktes, der vorausblickenden Intuition und Divination hängen hiermit zusammen. Wir sprechen von einem philologischen Takt und Blick, von einem mathematischen usw. Und wer besitzt ihn? Der durch vieljährige Übung geschulte Philologe bzw. Mathematiker usw. In der allgemeinen Natur der Gegenstände des jeweiligen Gebietes wurzeln gewisse Formen sachlicher Zusammenhänge, und diese bestimmen wieder typische Eigentümlichkeiten der gerade in diesem Gebiete vorwiegenden Begründungsformen. Hierin liegt die Basis für die vorauseilenden wissenschaftlichen Vermutungen. Alle Prüfung, Erfindung und Entdeckung beruht so auf den Gesetzmäßigkeiten der Form.

Ermöglicht nach all dem die geregelte Form den Bestand von Wissenschaften, so ermöglicht auf der anderen Seite die in weitem Umfange bestehende Unabhängigkeit der Form vom Wissensgebiet den Bestand einer Wissenschaftslehre. Gälte diese Unabhängigkeit nicht, so gäbe es nur einander beigeordnete und den einzelnen Wissenschaften einzeln entsprechende Logiken, aber nicht die allgemeine Logik. In Wahrheit finden wir aber beides nötig: wissenschaftstheoretische Untersuchungen, welche alle Wissenschaften gleichmäßig betreffen, und zur Ergänzung derselben besondere Untersuchungen, welche die Theorie und Methode der einzelnen Wissenschaften betreffen und das diesen Eigentümliche zu erforschen suchen.

So dürfte die Hervorhebung jener Eigentümlichkeiten, die sich bei der vergleichenden Betrachtung der Begründungen ergaben, nicht nutzlos gewesen sein, auf unsere Disziplin selbst, auf die Logik im Sinne einer Wissenschaftslehre, einiges Licht zu werfen.

§ 9. Die methodischen Verfahrungsweisen in den Wissenschaften teils Begründungen, teils Hilfsverrichtungen für Begründungen

Doch es bedarf noch einiger Ergänzungen, zunächst hinsichtlich unserer Beschränkung auf die Begründungen, die doch den Begriff des methodischen Verfahrens nicht erschöpfen. Den Begründungen kommt aber eine zentrale Bedeutung zu, die unsere vorläufige Beschränkung rechtfertigen wird.

Man kann nämlich sagen: daß alle wissenschaftlichen Methoden, die nicht selbst den Charakter von wirklichen Begründungen (sei es einfachen oder noch so komplizierten) haben, entweder denkökonomische Abbreviaturen und Surrogate von Begründungen sind, die, nachdem sie selbst durch Begründungen ein für allemal Sinn und Wert empfangen haben, bei ihrer praktischen Verwendung zwar die Leistung, aber nicht den einsichtigen Gedankengehalt von Begründungen in sich schließen; oder daß sie mehr oder weniger komplizierte Hilfsverrichtungen darstellen, die zur Vorbereitung, zur Erleichterung, Sicherung oder Ermöglichung künftiger Begründungen dienen und abermals keine diesen wissenschaftlichen Grundprozessen gleichwertige und neben ihnen selbständige Bedeutung beanspruchen dürfen.

So ist es z.B., um uns an die zweiterwähnte Methodengruppe anzuschließen, ein wichtiges Vorerfordernis für die Sicherung von Begründungen überhaupt, daß die Gedanken in angemessener Weise zum Ausdruck kommen mittels wohl unterscheidbarer und eindeutiger Zeichen. Die Sprache bietet dem Denker ein in weitem Umfang anwendbares Zeichensystem zum Ausdruck seiner Gedanken, aber obschon niemand desselben entraten kann, so stellt es doch ein höchst unvollkommenes Hilfsmittel der strengen Forschung dar. Die schädlichen Einflüsse der Äquivokationen auf die Triftigkeit der Schlußfolgerungen sind allbekannt. Der vorsichtige Forscher darf die Sprache also nicht ohne kunstmäßige Vorsorgen verwenden, er muß die gebrauchten Termini, soweit sie nicht eindeutig sindA: eindeutiger. und scharfer Bedeutung ermangeln, definieren. In der Nominaldefinition sehen wir also ein methodisches Hilfsverfahren zur Sicherung der Begründungen, dieser primär und eigentlich theoretischen Prozeduren.

| Ähnlich verhält es sich mit der Nomenklatur. Kurze und charakteristische Signaturen für wichtigere und häufig wiederkehrende Begriffe sind — um nur eines zu erwähnen — überall da unerläßlich, wo diese Begriffe mit dem ursprünglichen Vorrat von definierten Ausdrücken nur sehr umständlich zum Ausdruck kämen; denn umständliche, vielfach ineinander geschachtelte Ausdrücke erschweren die begründenden Operationen oder machen sie sogar unausführbar.

Von ähnlichen Gesichtspunkten läßt sich auch die Methode der Klassifikation betrachten usf.

Beispiele zur ersten Methodengruppe bieten uns die so überaus fruchtbaren algorithmischen Methoden, deren eigentümliche Funktion es ist, uns durch künstliche Anordnungen mechanischer Operationen mit sinnlichen Zeichen einen möglichst großen Teil der eigentlichen deduktiven Geistesarbeit zu ersparen. Wie Wunderbares diese Methoden auch leisten, sie gewinnen Sinn und Rechtfertigung nur aus dem Wesen des begründenden Denkens. Hierher gehören auch die in wörtlichem Sinne mechanischen Methoden — man denke an die Apparate für mechanische Integration, an Rechenmaschinen u. dgl. —, ferner die methodischen Verfahrungsweisen zur Feststellung objektiv gültiger Erfahrungsurteile, wie die mannigfaltigen Methoden zur Bestimmung einer Sternposition, eines elektrischen Widerstandes, einer trägen Masse, eines Brechungsexponenten, der Konstanten der Erdschwere usw. Jede solche Methode repräsentiert eine Summe von Vorkehrungen, deren Auswahl und Anordnung durch einen Begründungszusammenhang bestimmt wird, welcher allgemein nachweist, daß ein so geartetes Verfahren, mag es auch blind vollzogen sein, notwendigerweise ein objektiv gültiges Einzelurteil liefern müsse.

Doch genug der Beispiele. Es ist klar: Jeder wirkliche Fortschritt der Erkenntnis vollzieht sich in der Begründung; auf sie haben daher alle die methodischen Vorkehrungen und Kunstgriffe Beziehung, von denen über die Begründungen hinaus die Logik noch handelt. Dieser Beziehung verdanken sie auch ihren typischen Charakter, der ja zur Idee der Methode wesentlich gehört. Um dieses Typischen willen ordnen sie sich übrigens in die Betrachtungen des vorigen Paragraphen ebenfalls mit ein.

§ 10. Die Ideen Theorie und Wissenschaft als Probleme der Wissenschaftslehre

Aber noch einer weiteren Ergänzung bedarf es. Natürlich hat esFehlt in A. die Wissenschaftslehre, so wie sie sich uns hier ergeben hat, nicht bloß mit der Erforschung der Formen und Gesetzmäßigkeiten einzelner Begründungen (und der ihnen zugeordneten Hilfsverrichtungen) zu tun. Einzelne Begründungen finden wir ja auch außerhalb der Wissenschaft, und somit ist klar, daß einzelne Begründungen — und ebenso zusammengeraffte Haufen von Begründungen — noch keine Wissenschaft ausmachen. Dazu gehört, wie wir uns oben ausdrückten, eine gewisse Einheit des Begründungszusammenhanges, eine gewisse Einheit in der Stufenfolge von Begründungen; und diese Einheitsform hat selbst ihre hohe teleologische Bedeutung für die Erreichung des obersten Erkenntniszieles, dem alle Wissenschaft zustrebt: uns in der Erforschung der Wahrheit — d.h. aber nicht in der Erforschung einzelner Wahrheiten, sondern des Reiches der Wahrheit bzw. der natürlichen Provinzen, in die es sich gliedert — nach Möglichkeit zu fördern.

Die Aufgabe der Wissenschaftslehre wird es also auch sein, von den Wissenschaften als so und so gearteten systematischen Einheiten zu handeln, m.a.W. von dem, was sie der Form nach als Wissenschaften charakterisiert, was ihre wechselseitige Begrenzung, was ihre innere Gliederung in Gebiete, in relativ geschlossene Theorien bestimmt, welches ihre wesentlich verschiedenen Arten oder Formen sind, u. dgl.

Man kann diese systematischen Gewebe von Begründungen ebenfalls dem Begriff der Methode unterordnen und somit der Wissenschaftslehre nicht bloß die Aufgabe zuweisen, von den Wissensmethoden zu handeln, die in den Wissenschaften auftreten, sondern auch von denjenigen, welche selbst Wissenschaften heißen. Nicht allein gültige und ungültige Begründungen, sondern auch gültige und ungültige Theorien und Wissenschaften zu scheiden, fällt ihr zu. Die Aufgabe, die ihr damit zugewiesen wird, ist von der früheren offenbar nicht unabhängig, sie setzt in beträchtlichem Umfange deren vorgängige Lösung voraus; denn die Erforschung der Wissenschaften als systematischer Einheiten ist nicht denkbar ohne die vorgängige Erforschung der Begründungen. Jedenfalls liegen beide im Begriffe einer Wissenschaft von der Wissenschaft als solcher.

§11. Die Logik oder Wissenschaftslehre als normative Disziplin und als Kunstlehre

Nach dem, was wir bisher erörtert haben, ergibt sich die Logik — in dem hier fraglichen Sinne einer Wissenschaftslehre — als eine normative Disziplin. Wissenschaften sind Geistesschöpfungen, die nach einem gewissen Ziele gerichtet und darum auch diesem Ziele gemäß zu beurteilen sind. Und dasselbe gilt von den Theorien, Begründungen und allem überhaupt, was wir Methode nennen. Ob eine Wissenschaft in Wahrheit Wissenschaft, eine Methode in Wahrheit Methode ist, das hängt davon ab, ob sie dem Ziele gemäß ist, dem sie zustrebt. Was den wahrhaften, den gültigen Wissenschaften als solchen zukommt, m.a.W. was die Idee der Wissenschaft konstituiert, will die Logik erforschen, damit wir daran messen können, ob die empirisch vorliegenden Wissenschaften ihrer Idee entsprechen, oder inwieweit sie sich ihr nähern, und worin sie gegen sie verstoßen. Dadurch bekundet sich die Logik als normative Wissenschaft und scheidet von sich ab die vergleichende Betrachtungsweise der historischen Wissenschaft, welche die Wissenschaften als konkrete Kulturerzeugnisse der jeweiligen Epochen nach ihren typischen Eigentümlichkeiten und Gemeinsamkeiten zu erfassen und aus den Zeitverhältnissen zu erklären versucht. Denn das ist das Wesen der normativen Wissenschaft, daß sie allgemeine Sätze begründet, in welchen mit Beziehung auf ein normierendes Grundmaß — z.B. eine Idee oder einen obersten Zweck — bestimmte Merkmale angegeben sind, deren Besitz die Angemessenheit an das Maß verbürgt oder umgekehrt eine unerläßliche Bedingung für diese Angemessenheit beistellt; desgleichen auch verwandte Sätze, in welchen der Fall der Unangemessenheit berücksichtigt oder das Nichtvorhandensein solcher Sachlagen ausgesprochen ist. Nicht als ob sie allgemeine Kennzeichen zu geben brauchte, die besagen, wie ein Objekt überhaupt beschaffen sein soll, um der Grundnorm zu entsprechen; so wenig die Therapie Universalsymptome angibt, so wenig gibt irgendeine normative Disziplin Universalkriterien. Was uns im besonderen die Wissenschaftslehre gibt und allein geben kann, sind Spezialkriterien. Indem sie feststellt, daß im Hinblick auf das oberste Ziel der Wissenschaften und auf die faktische Konstitution des menschlichen Geistes, und was sonst noch in Betracht kommen mag, die und die Methoden, etwa M1M2..., erwachsen, spricht sie Sätze der Form aus: Jede Gruppe von Geistesbetätigungen der Arten aß..die in der Komplexionsform M1 (bzw. M2...) sich abwickeln, liefert einen Fall richtiger Methode; oder was gleichwertig ist: Jedes (angeblich) methodische Verfahren der Form M1 (bzw. M2-..) ist ein richtiges. Gelänge es, alle an sich möglichen und gültigen Sätze dieser und verwandter Art wirklich aufzustellen, dann allerdings enthielte die normative Disziplin die messende Regel für jede angebliche Methode überhaupt, aber auch dann nur in Form von Spezialkriterien.

Wo die Grundnorm ein Zweck ist oder Zweck werden kann, geht aus der normativen Disziplin durch eine naheliegende Erweiterung ihrer Aufgabe eine Kunstlehre hervor. So auch hier. Stellt sich die Wissenschaftslehre die weitergehende Aufgabe, die unserer Macht unterliegenden Bedingungen zu erforschen, von denen die Realisierung gültiger Methoden abhängt, und Regeln aufzustellen, wie wir in der methodischen Überlistung der Wahrheit verfahren, wie wir Wissenschaften triftig abgrenzen und aufbauen, wie wir im besonderen die mannigfachen in ihnen förderlichen Methoden erfinden oder anwenden, und wie wir uns in allen diesen Beziehungen vor Fehlern hüten sollen: so wird sie zur Kunstlehre von der Wissenschaft. Offenbar schließt diese die normative Wissenschaftslehre ganzA: voll und ganz. in sich, und es ist daher vermöge ihres unzweifelhaften Wertes durchaus an-| gemessen, wenn man den Begriff der Logik entsprechend erweitert und sie im Sinne dieser Kunstlehre definiert.

§ 12. Hierher gehörige DefinitionenA: Definition. Die Veränderung in B entspricht dem Wortlaut des Titels im Inhaltsverzeichnis von A sowie den "Berichtigungen" zu A. der Logik

Die Definition der Logik als einer Kunstlehre ist von alters her sehr beliebt, doch lassen die näheren Bestimmungen in der Regel zu wünschen übrig. Definitionen wie Kunstlehre des Urteilens, des Schließens, der Erkenntnis, des Denkens (l’art de penser) sind mißdeutlich und jedenfalls zu enge. Begrenzen wir z.B. in der letzterwähnten und noch heute gebrauchten Definition die vage Bedeutung des Terminus "denken" auf den Begriff des richtigen Urteils, so lautet die Definition: Kunstlehre vom richtigen Urteil. Daß diese Definition aber zu enge ist, geht nun daraus hervor, daß aus ihr der Zweck der wissenschaftlichen Erkenntnis nicht ableitbar ist. Sagt man: der Zweck des Denkens werde vollkommenA: voll und ganz. erst in der Wissenschaft erfüllt, so ist dies unzweifelhaft richtig; aber es ist damit auch zugegeben, daß eigentlich nicht das Denken bzw. die Erkenntnis, der Zweck der fraglichen Kunstlehre ist, sondern dasj enige, dem das Denken selbst Mittel ist.

Ähnlichen Bedenken unterliegen die übrigen Definitionen. Sie unterliegen auch dem neuerdings wieder von Bergmann erhobenen Einwande, daß wir in der Kunstlehre einer Tätigkeit — z.B. des Malens, des Singens, des Reitens — vor allem erwarten müßten, "daß sie zeige, was man tun müsse, damit die betreffende Tätigkeit richtig vollzogen werde, z.B. wie man beim Malen den Pinsel fassen und führen, beim Singen die Brust, die Kehle und den Mund gebrauchen, beim Reiten den Zügel anziehen und nachlassen und mit den Schenkeln drücken müsse". So kämen in den Bereich der Logik ihr ganz fremdartige Lehren.* Bergmann, Die Grundprobleme der Logik2, 1895, S. 7f. — Vgl. auch Dr. B. Bolzanos Wissenschaftslehre (Sulzbach 1837), I, S. 24. "Gehört z.B. die Frage, ob Koriander ein Mittel zur Stärkung des Gedächtnisses sei, in die Logik? Und doch müßte sie es, wäre die Logik eine ars rationis formandae im ganzen Umfange der Worte."

Näher der Wahrheit steht sicherlich Schleiermachers Definition der Logik als Kunstlehre von der wissenschaftlichen Erkenntnis. Denn selbstverständlich wird man in der so begrenzten Disziplin nur die Besonderheit der wissenschaftlichen Erkenntnis zu berücksichtigen und, was sie fördern kann, zu erforschen haben; während die entfernteren Vorbedingungen, welche das Zustandekommen von Erkenntnis überhaupt begünstigen, der Pädagogik, der Hygiene usw. überlassen bleiben. Indessen kommt in Schleiermachers Definition nicht ganz deutlich zum Ausdruck, daß es dieser Kunstlehre auch obliege, die Regeln aufzustellen, denen gemäß Wissenschaften abzugrenzen und aufzubauen sind, während umgekehrt dieser Zweck den der wissenschaftlichen Erkenntnis einschließt. Vortreffliche Gedanken zur Umgrenzung unserer Disziplin findet man in Bolzanos Wissenschaftslehre, aber mehr in den kritischen Voruntersuchungen als in der Definition, die er selbst bevorzugt. Diese lautet befremdlich genug: die Wissenschaftslehre (oder Logik) sei "diejenige Wissenschaft, welche uns anweise, wie wir dieFehlt in A. Wissenschaften in zweckmäßigen Lehrbüchern darstellen sollen".** Bolzano, a. a. O. I,S. 7. Allerdings ist der IV. Bd. der Wissenschaftslehre speziell der Aufgabe gewidmet, welche die Definition ausspricht. Aber es mutet sonderbar an, daß die unvergleichlich wichtigeren Disziplinen, welche die drei ersten Bände behandeln, bloß als Hilfsmittel einer Kunstlehre von den wissenschaftlichen Lehrbüchern dargestellt sein sollen. Natürlich beruht auch die Größe dieses noch lange nicht genug geschätzten, ja fast gar nicht benutzten Werkes auf den Forschungen dieser erstenA: ersteren. Bände.

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First Edition
(1900) "Die Logik als normative und speciell als practische Disciplin", in: Husserl Edmund, Logische Untersuchungen. Erster Theil, Halle (Saale), Niemeyer, pp.9-29.